Kapitel 19

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Mias Entwicklung war nur eins: Besorgniserregend. Anstatt den ganzen Tag sich in ihrem Zimmer einzusperren, stürzte sie sich in den Sport. Sie ging stundenlang jeden Tag joggen, in der Uni war sie seit Wochen nicht gewesen und Daliah wunderte sich, dass sie noch nicht verhungert war, so wenig aß sie. Doch sie wollte partout nicht in psychische Behandlung gehen und Daliah traute sich nicht, gegen ihren Willen Hilfe zu holen. Sie würde das sicher als Verrat ansehen. Alles Betteln und Flehen, sie solle doch mit ihr reden oder etwas essen, brachte nichts, perlte an ihr ab, wie Regentropfen. Die Brünette war nur froh, dass ihre Eltern sie über Weihnachten abholen würden und sie dann wenigstes zeitweilig eine Sorge weniger hatte. Es war nicht so, dass sie Mia loswerden wollte. Sie hoffte nur, dass ihre Familie ihr besser helfen konnte, als sie.

Jemanden, von dem sie hingegen eine unerwünschte Pause bekam war Shay: Er hatte sich nicht mehr seit den ominösen Mails gemeldet, was sie traurig machte. Bald würde sie ebenfalls über Weihnachten zu ihrer Familie fahren und dort herrschte während der Feiertage absolutes Laptop- und Handyverbot. Sie spürte, dass sie ihn vermisste. Sie vermisste ihn irgendwie immer, wenn er ihr nicht täglich schrieb. Und sie bereute es, dass sie sich verpasst hatten und sie ihn nicht persönlich hatte treffen können. Sie strich sich die langen Haare hinter die Ohren und stapelte weitere Klamotten in ihren Koffer, der schon gut mit Geschenken gefüllt war. Geschenke… ob Shay ihr Geburtstagsgeschenk gefallen hatte? Er hatte dazu noch gar nichts gesagt. Wahrscheinlich konnte er einfach nichts damit anfangen und sie musste zugeben: Bilder konnte man schließlich nur aufhängen. Und er wurde sich sicher kein Portrait von ihr an die Wand nageln. Natürlich hätte sie ihm viel lieber eine Gitarre oder so etwas geschenkt, da e leidenschaftlich gerne Musik machte, doch so viel Geld hatte sie nun einmal nicht zur Verfügung. In Wirklichkeit ging eigentlich ihr komplettes Geld für ihr Studium drauf, für die Materialien, die Bücher, den Studienbeitrag und gelegentliche Exkursionen. Sie konnte sich meist nicht mal Klamotten kaufen und bekam deshalb meist zum Geburtstag und Weihnachten Anziehsachen geschenkt. Glücklicherweise hatte sie einen simplen Kleidungsstil, mit einfachen Röhrenjeans und T-Shirts konnte man nicht falsch liegen. Das letzte Geld, das sie in diesem Monat nach dem teuren Aufenthalt in LA noch übrig gehabt hatte, war für Mias Geschenk drauf gegangen. Sie hatte ihr ein Sterling-Silber-Armband mit Gravur gekauft, in dem stand: „Für die allerbeste Freundin auf der Welt.“ Hätte der Juwelier, ihr nicht einen großen Rabatt gegeben, weil sie mit ihren Wimpern geklimpert und ihn zuckersüß angelächelt hatte, hätte sie es nicht kaufen können. Doch sie hatte es geschafft und nun lag es hübsch eingepackt in Mias Koffer, den Daliah für sie gepackt hatte, da sie es sicher nicht gemacht hätte. Sie tat eigentlich generell nichts anderes mehr, als Joggen, Duschen und sich in ihrem Zimmer verkriechen. Deshalb erwartete Daliah auch nicht, dass Mia ihr etwas schenkte, obwohl die jede Menge Geld zur Verfügung hatte. Doch sie nahm es ihr nicht übel. Wenn sie wieder gesund wurde, dann war das Geschenk genug.

Freudig stellte sie fest, dass in ihrem Koffer noch genug Platz war für ihren Skizzenblock. Sie wollte ihn gerade aus dem Stapel von Blöcken ziehen, der an der Wand lehnte, als ihr Handy vibrierte und sie erschreckt zusammenzuckte. Es war eine Mail von Shay! Mit vor freudiger Erwartung zitternden Händen, öffnete sie sie.

„Sag mal, hast du eigentlich viele Fenster in deiner Wohnung?“

Diese Frage kam so unerwartet, war so seltsam, dass sie sie zweimal lesen musste, bis sie sie verstand, doch immer noch nicht nachvollziehen konnte.

„Em… mein Zimmer allein hat schon drei große bodentiefe Fenster, wieso fragst du mich so was?“

Zwei Sekunden dauerte es, dann vibrierte ihr Handy erneut.

„Du solltest mal Strom sparen, zum Beispiel, indem du weniger Lampen gleichzeitig anhast…;P“

Sie ließ sich mit dem Handy auf ihre Kissen am Fenster fallen und lehnte sich an das kalte Glas. Sie Verstand kein Wort. Dennoch schaltete sie schuldbewusst das Licht nach kurzem Zögern aus. Schließlich hatte er schon Recht. Doch wie kam er jetzt darauf? Jetzt, da es dunkel in ihrem Zimmer war, konnte sie nach draußen sehen, wo es bereits dunkel war. Das einzige Licht spendeten die Laternen auf dem Gehweg. Die kleine Straße lag verlassen und ruhig unter einer dünnen Schneedecke da. Im Schein der Laternen konnte Daliah erkennen, dass es wieder begonnen hatte zu schneien. Bis jetzt führten noch keine Fußspuren durch den frischen Schnee bis auf eine. Sie folgte ihnen mit dem Blick. Sie führten auf der anderen Straßenseite genau bis auf Höhe ihrer Wohnung und dann in den Schatten der Bäume am Wegrand. Dort stand jemand, denn die Person wurde noch spärlich von der Straßenlaterne angestrahlt. Es sah etwas gruselig aus, wie sie da in der Dunkelheit wartete.

Kurz stahl sich der absurde Gedanke in Daliahs Kopf, dass Shay vielleicht gewollt hatte, dass sie diese Person bemerkte, doch sofort wischte sie ihn wieder weg, weil es absurd war, schließlich war Shay in Amerika und konnte kaum wissen, dass jemand unter ihrem Fenster stand, als die Person ins Licht trat. Im gelben Schein glänzten blonde, vom Wind zerzauste Haare. Daliah erkannte die Person als einen hochgewachsenen, schlanken, jungen Mann, der ein Handy in seiner Hand hielt und – da war sie sich sicher – zu ihr hoch sah. Daliah war vor Angst wie erstarrt, starrte nur zu dem Blonden zurück. Da vibrierte ihr Handy abermals, genau in dem Moment, als der Typ seines wieder in der Hosentasche verwinden lies. Daliah machte fast einen Satz bis an die Decke.

„Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt. Okay, vielleicht doch :D Jedenfalls, ich glaube, du musst dich erst mal von meinem Auftauchen erholen, deshalb bitte ich dich, mich morgen zu treffen. Ort kannst du dir aussuchen, ich kenne mich hier ja überhaupt nicht aus, also wäre ne Wegbeschreibung praktisch.

Shay“

Daliah sah hoch, doch Shay, der Blonde Mann unter ihrem Fenster, war verschwunden.  Dieser war schon in die nächste Straße gebogen mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Er wusste, das Daliah ihm das nicht übel nehmen würde. Mit ihr konnte man gut Scherze machen.

Er hatte sie einfach sehen müssen, bevor er sie richtig traf. Eigentlich hatte er sie nur einfach schon sehen wollen, aber noch nicht die Eier gehabt, mit ihr zu sprechen. Das würde er jedoch morgen tun.

Bedauerlicherweise hatte er sie nicht richtig sehen können, weil sie einfach zu weit weg gewesen war und sich auch nie richtig dem Fenster zugewandt hatte. Das Einzige, das er hatte erkennen können, war, dass sie lange, braune, lockige Haare hatte mittelgroß und schlank war. Also würde er sich morgen trotzdem überraschen lassen müssen. Er wusste zu dem Zeitpunkt ja noch nicht, was für eine Überraschung das Treffen werden würde.

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