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Als ich aufwachte, schlief Thomas noch. Vorsichtig stand ich auf und ging ins Bad, wo ich mir das Gesicht wusch. Noch nie hatte ich etwas so sehr bereut wie diese Nacht. Ich wusste, dass ich mich nicht verlieben durfte. Und doch hatte ich es getan. Ohrfeigen könnte ich mich. Ich begutachtete die Wunde an meiner Schulter und die Wunde in meinem Gesicht. Beide sahen gut aus, hoffentlich würde keine Narbe zurückbleiben. Ich seufzte. Was hatte ich bloß getan. „Verdammte scheiße!", murmelte ich. Der Spruch: "Das Herz macht, was es will" bekam auf einmal eine ganz neue Bedeutung. Normal würde ich jetzt denken, es war ja nur ein Kuss, nichts Schlimmes, das macht ein Teenager nun mal. Und wären wir nicht in dieser prekären Situation, sondern am Set, würde ich auch genau so denken. Da kam mir ein Gedanke. Was, wenn er sich kaum noch an die Nacht erinnern konnte? Immerhin hatte er eine Panikattacke, ich hatte keine Ahnung, ob man danach noch bei vollem Bewusstsein war. Diese Idee setzte sich in meinem Kopf fest und ich verdrängte den Rest. Jetzt ging es darum, uns hier heil rauszuholen. Und wenn ich heute kein Pech hatte, würde das auch ziemlich schnell gehen. Ich ging zurück in unser 'Gästezimmer' und setzte mich auf mein Bett, den Rücken an die Wand gelehnt. Laut meinem Zeitgefühl musste es jetzt ungefähr neun Uhr sein, also müsste der Typ mit dem Essen bald kommen. Wenn ich es schaffte, ihn zu überrumpeln, dann waren wir fast draußen. Also wartete ich. Und wartete. Thomas schlief noch immer und darüber war ich auch ziemlich froh. Ich hatte keine Lust, jetzt mit ihm zu reden, für den Ausbruch gleich brauchte ich keinen klaren Kopf. Fröstelnd zog ich die Arme um meinen Körper. Mir war kalt, obwohl es doch mitten im Sommer war. Um mich etwas aufzuwärmen lief ich im Raum auf und ab. Und dann hörte ich den Riegel, der zur Seite geschoben wurde. Blitzschnell lief ich hinter die Tür. So konnte mich der Typ nicht sehen. Ein großer Mann, mindestens 1.90m, betrat den Raum. Trotz seiner Größe war er nicht besonders muskulös und hoffentlich einfach zu überwältigen. Als er ganz drin war, spannte ich meine Muskeln an und sprang ihm genau in dem Moment in den Rücken, wo er etwas sagen wollte. Er keuchte auf und fiel nach vorne, das Tablett mit dem Essen landete auf dem Boden. Schneller als ich erwartet hatte, rappelte er sich wieder auf und drehte sich zu mir um. Mein Karateunterricht zu Hause hatte mir gelehrt, nie zu warten, bis sich ein Gegner aufgerichtet hatte, also zog ich meinen Fuß eng an den Körper und trat ihm kräftig zwischen die Beide. Er schrie heiser auf und ging in die Knie. Und mit einem Handkantenschlag auf einen Nerv am Hals beförderte ich ihn ins Reich der Träume. „Verdammt!", hörte ich eine Stimme und fuhr erschrocken herum. Thomas stand im Raum, er schlief wohl nicht mehr und starrte entsetzt auf den Mann. Seine Haare waren etwas verstrubbelt, was ihn irgendwie süß aussehen ließ. Ich schüttelte den Kopf und wandte mich wieder um. „Komm, wir müssen hier raus!" Bevor ich den Raum verließ, bückte ich mich und nahm mir die Pistole, die im Halfter des Mannes steckte. „Yara." Ich drehte mich um und schüttelte den Kopf. Es fiel mir nicht leicht aber ich wusste, dass alles andere nur noch schlimmer war. Dann ging ich aus der Tür in den breiten Gang, Thomas folgte mir. Rasch orientierte ich mich und lief dann nach links, in Richtung der Treppe. „Sei leise!", zischte ich und öffnete die Tür am Ende der Treppe. Der Raum war komplett leer, was mich wunderte. Irgendwo mussten ja alle sein. Vorsichtig gingen wir zum großen Rolltor und ich untersuchte es. „Wie kommen wir hier raus?", fragte Thomas skeptisch. Ich betrachtete das Tor stirnrunzelnd. Vermutlich ging es mit einer Fernbedienung auf, die wir nicht hatten. Prüfend berührte ich es. Es schien nicht besonders dick oder fest. Es standen zwei Wagen im Raum, ein Jeep und der Lieferwagen, in dem wir hergekommen waren. Entschlossen ging ich auf den Lieferwagen zu. „Was hast du vor?", fragte Thomas. „Etwas Verrücktes!" Glücklicherweise war die Tür des Autos offen und, Himmel sei Dank, der Schlüssel steckte. „Na bitte, man muss ja auch mal Glück haben!", murmelte ich und setzte mich auf den Fahrersitz. „Jetzt steig schon ein!" Zögernd nahm Thomas auf dem Beifahrersitz Platz und ich startete das Auto. „Bist du überhaupt schon mal gefahren?", fragte er mich. „Zwei Mal beim Training. Aber das Auto war Vollautomatik. Das hier ist...", erklärte ich und starrte auf das Armaturenbrett. „Egal, hier sind die Gänge, da ist Bremse und Gas, wird schon klappen!" Ich atmete tief durch und drückte das Pedal voll durch. Ruckartig machten wir einen Satz nach vorne. „Halt dich fest!", schrie ich und schob den Gang hoch. Wir rasten auf das Rolltor zu. Aus dem Augenwinkel sah ich die Tür aufgehen und mehrere Männer kamen raus. Ich hörte Schreie und dann Schüsse. Fast alle davon prallten an der Karosserie ab. „Ok, vergiss das Festhalten, duck dich, in den Fußraum und komm erst hoch, wenn ich es sage!", schrie ich. Thomas war grade so im Fußraum, da kollidierten wir mit dem Rolltor. Erst dachte ich, dass wir nicht durchkommen würden aber mit einem hässlichen Kreischen und vielen Dellen brachen wir schließlich durch das Metall. Eine Kugel zerschlug die Heckscheibe und blieb in meinem Polster stecken. Die komplette Frontscheibe war gesplittert, ich konnte fast gar nichts erkennen. Kurz entschlossen schlug ich mit der Hand dagegen und die Scheibe oder die Hälfte der Scheibe brach aus dem Rahmen. Meine gesamte Hand brannte wie Hölle und es befanden sich mit Sicherheit etliche Splitter darin aber ich ignorierte es. Ich fühlte noch nicht mal den Schmerz, so sehr rauschte das Adrenalin durch mein Blut. Mehr schlecht als recht lenkte ich den Lieferwagen den Feldweg entlang. Wo zur Hölle waren wir? Hinter mir konnte ich den Jeep sehen, der die Verfolgung aufnahm. „Oh scheiße!", schrie ich, als eine Kugel nur knapp an mir vorbei sauste und ein Loch in die noch verbliebene Scheibe schlug. Ich drückte das Gaspedal so weit wie möglich nach unten und versuchte dem Weg zu folgen. Tatsächlich kamen wir bald auf eine asphaltierte Straße. Wir waren jedoch keine hundert Meter gefahren, als es plötzlich laut knallte und der Wagen ins Schlingern kam. Panisch versuchte ich ihn auf der Spur zu halten, doch ohne Erfolg. Als kurz drauf ein zweiter Knall ertönte und das Kreischen von Metall auf Asphalt einsetzte, begriff ich, was unsere Verfolger getan hatten. Die Mistkerle hatten uns die Reifen zerschossen! Bevor ich reagieren konnte, kollidierten wir mit der Leitplanke und schrammten daran entlang, dann wendete der Wagen scharf zur anderen Seite und fuhr einen Abhang hinunter. „Oh scheiße, scheiße, scheiße! Halt dich fest!", schrie ich und drückte mich auf den Sitz. Ich hörte Thomas schreien. Wir überschlugen uns mehrfach und rammten mehrere Bäume, bevor wir endlich unten angekommen waren. Unterwegs war irgendwann der Motor abgesoffen. Stöhnend richtete ich mich auf. Mein Kopf schmerzte und ich war ziemlich sicher, dass ich mir die Schulter ausgerenkt hatte, jedoch versuchte ich diesen Schmerz zu ignorieren. „Thomas?" Erst bekam ich keine Antwort und ich bekam Angst aber dann hörte ich ein Stöhnen. „Wir müssen raus hier, los!", rief ich. Draußen konnte ich die Männer rufen hören. Ich spähte in den Fußraum und stellte erleichtert fest, dass ihm soweit nichts passiert war. Ich stieß die Tür auf und ließ mich sofort fallen, auf meine ausgerenkte Schulter. Der Schmerz fuhr mir bis in die Knochen und ich schrie auf. Verbissen stand ich auf und rannte zur anderen Seite um Thomas aus dem Wagen zu helfen. „Los, los, los! Lauf!", rief ich und zerrte ihn hinter mir her. In meiner Hand hielt ich die Pistole. Glücklicherweise waren wir in einem Wald gelandet und hatten damit viele Möglichkeiten, uns zu verstecken.
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Wir rannten, bis wir fast zusammenbrachen. Völlig außer Atem und unfähig zu sprechen, sanken wir im Dickicht auf den Boden. Wir beide rangen nach Luft. „Ich glaube wir haben sie abgehängt", keuchte er, als er wieder halbwegs normal atmen konnte. Doch ich schüttelte den Kopf. Ich konnte sie hören. „Hör zu. Wir müssen in eine Stadt. Von dort muss ich das Hauptquartier anfunken und um Verstärkung bitten!" „Was ist mit dem Funkgerät im Lieferwagen? Wenn es nicht komplett zerstört ist, könnte man damit doch auch Hilfe anfordern, oder?", fragte er. Ich nickte. Vorhin war es mir gar nicht aufgefallen. „Bleibt nur das Problem wie wir zum Wagen zurückkommen ohne gesehen zu werden!", bedachte er. „Nein, das bekommen wir hin!", widersprach ich und entsicherte meine Pistole. „Müssen wir sie wirklich töten?", fragte er. Verwirrt sah ich ihn an. „Töte oder du wirst getötet. Oder ich werde getötet, dich brauchen sie ja lebend! Um deine Frage zu beantworten: Ja, ich muss sie töten, da ich nicht vorhabe, als Schweizer Käse voller Löcher zu enden!", antwortete ich scharf. Dann stand ich auf. „Bleib hinter mir und versuch kein Geräusch zu machen!" Leise schlichen wir den Weg zurück, den wir gekommen waren. Keiner von uns beiden sagte auch nur ein Wort. Etwas weiter weg hörte man die Männer rufen. Als wir uns dem Auto nährten, hielt ich angespannt nach ihnen Ausschau aber anscheinend waren sie wirklich so dumm gewesen und hatten das Auto unbewacht gelassen. Eilig begab ich mich zum Auto und rutschte auf den Sitz.
***
Unruhig tigerte Seth auf und ab. Seit drei Tagen hatte sich Yara nicht mehr gemeldet und von Wes, dem Regisseur, wusste er, dass man sie angehalten und sowohl Thomas als auch Yara mitgenommen hatte. Fast hätte er das Signal übersehen, dass auf dem Monitor aufleuchtete. Eilig stellte er auf Empfang. „Seth? Seth, kannst du mich hören? Wenn ja, wir brauchen dringend Hilfe! Hier sind unsere Koordinaten!" Sie nannte die Koordinaten. „Yara, ich kann dich hören! Geht es euch gut?", fragte er beunruhigt. „Seth, kannst du mich hören? Das sind unsere Koordinaten!" Wieder nannte sie die Koordinaten. Anscheinend konnten sie ihn nicht hören. Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch und wartete, dass Yara noch etwas sagte aber das Gerät blieb still. „Heilige...!", fluchte er und machte sich auf zum Büro des Leiters. Denn das war die einzige Möglichkeit, wie er Yara helfen konnte.

Ein Bodyguard mit FolgenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt