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"So still plötzlich, Süße. Etwa doch Angst, dass du nicht so wichtig bist, wie du denkst?"
Liliana lag zusammen gerollt auf dem kühlen Boden und würdigte Akiko keines Blickes. Nicht nur, damit sie die zerlaufene Mascara, die in schwarzen Tränen unter Lilianas Augen klebte, nicht sehen konnte, sondern weil sie sich kaum bewegen konnte. Sie atmete nur schwach und spürte schon das dritte Mal ihr Herz unregelmäßig springen. Das Blut hatte sich nun über den Großteil ihres Oberkörpers ausgebreitet und ihr weißes Unterhemd in tiefem dunklen Rot gefärbt. Irgendetwas lief entschieden falsch, vielleicht war etwas aufgerissen. Sie musste zugeben, dass sie in den letzten Wochen nicht gut für die Verletzung gesorgt hatte.
"Mach dir keinen Kopf. Wir alle werden früher oder später mal vergessen. Vielleicht bist du jetzt dran."
"Halt dein Maul.", zischte Liliana, was einen stechenden Schmerz durch ihren Körper zucken ließ. Ihr wurde schwummerig und sie musste würgen.
"Du weißt, dass ich Recht habe."
Liliana wollte es leugnen doch, wenn sie ehrlich sein sollte, konnte sie sich nicht sicher sein. Wenn sie genau darüber nach dachte, hatte sie sich Dmitriy schon immer besser geredet, als er war. Sein Verhalten auf die Drogen geschoben oder seinen extraordinären Vater. Sich eingeredet, er würde sich irgendwann bessern. Oder vielleicht verdiente sie es, in diesem Loch fest zu sitzen, weil sie darüber nachgedacht hatte, Dmitriy im Stich zu lassen, weil sie nicht schnell genug gewesen war. Sie konnte nicht anders, als sich die Schuld für ihre Lage zu geben. Wenn sie schneller in Chinatown angekommen wäre, wenn die Bullen ihn nicht fest genommen hätten. Wenn sie einfach zusammen zurück zum Hotel gefahren wären.
Wenn, wenn, wenn.
Wenn war jetzt egal, denn es war zu spät. Liliana hätte ihn beschützen sollen und sie hatte es verschissen. Bald würde sie genug Blut verloren haben, dass es endlich zu Ende war oder vielleicht würde sie vorher sowieso verdursten. Die Vorstellung war zumindest besser, als zu erleben, was auch immer die überbleibenden Yakuza sonst mit ihr vor hatten. Jetzt wo das Lösegeld wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehen weg war, mussten sie die Millionen ja wieder irgendwie rein bekommen. Der Schwarzmarkt bot da jede Menge gute Geschäfte.
"Niemand wird dich retten kommen, Denissow. Das musst du selbst machen, also steh endlich auf!"
"Lass es endlich gut sein, ich habs verstanden."
"Du gibst so einfach auf?"
"Was sollen wir schon machen, es hat keinen Sinn." 
"Wir müssen irgendwie die Tür auf bekommen. Ich hab sicher irgendwo eine Spange, die wir benutzen können.", Akiko krabbelte zur Tür, fummelte sich eine schwarze Klammer aus den Haaren und entfachte ihr Feuerzeug, ,,Kannst du mal rüber kommen? Ich könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen."
Aber von Liliana kam keine Reaktion. Akiko wartete bis von der Blonden ein leises Gurgeln zu hören war. Sie musste schlucken.
"Denissow?"
Keine Antwort.
"Denissow, was ist los?"
Als wieder keine Antwort kam, näherte Akiko sich langsam dem schmalen, bleichen Körper, der im Dämmerlicht nur schemenhaft erkennbar war. Als sie näher kam, sah sie jedoch das ganze Blut, in dem Lilianas Kleidung getränkt war und als sie Liliana auf den Rücken drehte, schaute sie in glasige, irgendwie weinerliche Augen. Aus Lilianas Mundwinkel lief ein winziges Rinnsal an Blut.
"Mein Gott! Was ist passiert? Haben sie dir das oben angetan?"
"Ist eine alte Wunde", krächzend bewegte Liliana einen Arm um ihr Hemdchen nach oben zu ziehen, "von meinem letzten Auftrag."
"Das sieht nicht allzu alt aus.", Akiko sah geschockt auf die aufgeplatzte Wunde hinab, ,,Da wurden ja noch noch nicht mal die Fäden gezogen, wie lang soll das bitte her sein?"
"Ich weiß es nicht mehr genau. Ein Monat vielleicht. Das war mein letzter Auftrag, bevor ich mit dem Job aufhören wollte."
"Jaja, du musst mir nicht deine halbe Lebensgeschichte erzählen. Viel wichtiger ist, was wir mit der Wunde machen. Du verblutest gerade aktiv und ich hab keine Lust hier einen stinkenden Kadaver liegen zu haben.", sie zog ihre dünne Jacke aus, knüllte sie zusammen und drückte sie gegen Lilianas Taille, ,,Halt das mal. Drück am Besten so fest du kannst."
Während Liliana sich die Jacke gegen den Körper presste sprang Akiko auf und machte sich weiter daran, die Tür irgendwie auf zu bekommen.
Irgendwann war sie so verzweifelt, dass sie begann, laut gegen die Tür zu hämmern und nach Hilfe zu rufen. Sie hatte sich schon fast heiser geschrien als von der anderen Seite der Tür ein Geräusch zu vernehmen war und die beiden Frauen gleichzeitig verstummten.
"Weg von der Tür!", rief jemand und die Stimme kam Liliana merkwürdig bekannt vor, dann flog die Tür aus den Angeln und knallte zu Boden. Akiko konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite flüchten.
Liliana drehte sich ein Stück um zum Türrahmen schauen zu können. Mit dem Licht im Rücken stand dort ein Mann oder vielleicht ein Engel, so wie er aussah. War Liliana tot? War das der Engel der sie in den Himmel bringen würde? Aber Liliana würde niemals in den Himmel kommen.
"So ein Glück, Sir! Sie ist verletzt, sie braucht dringend Hilfe!", Akiko deute auf Liliana worauf der Mann den Raum betrat und schnellen Schrittes auf sie zu lief.
"Sie sollten so schnell wie möglich gehen.", sagte er an Akiko gewandt, ,,Oben sind alle tot, aber sie haben Verstärkung gerufen."
Akiko lief eine Träne über die Wange und sie ballte die Hände zu Fäusten, aber dann drehte sie sich um und sprintete die Treppen nach oben ins Tageslicht.
"Du musst noch ein bisschen wach bleiben.", sagte er dann zu Liliana, während er neben ihr nieder kniete, ,,Gleich geschafft."
Er hob Liliana vorsichtig vom Boden und trug sie aus dem Keller bis nach oben ins Freie. Seine dunkle Haut glänzte im Licht der untergehenden Sonne fast golden und Liliana war sich in diesem Moment voll und ganz sicher, dass so Engel aussehen mussten. Er trug sie aus der Halle ein paar hundert Meter weiter bis zu einem Auto, öffnete eine Tür und Liliana konnte Dmitriy erblicken. Bewusstlos auf der Rückbank.
Der Mann legte sie neben Dmitriy ab und verschwand kurz, dann kam er mit einem Tuch zurück und presste es auf Lilianas Wunde. Der Schmerz war so intensiv, dass sie nach Luft schnappen musste.
"Ganz ruhig.", die Stimme des Mannes wirkte wie Beruhigungsmittel auf Liliana. Sie schaffte es, ihren Körper etwas zu entspannen und er drückte das Tuch noch etwas fester.
"Kannst du das selbst halten?", er legte Lilianas Hand auf das Tuch aber sie rutschte gleich wieder weg.
"Sie blutet noch das ganze verdammte Auto voll, Lemon!"
"Dann halt du doch fest. Irgendwer muss sowieso aufpassen, dass der Sohn nicht wieder aufwacht."
"Und warum muss ich das machen?"
"Irgendwer muss es machen. Ich bin schon rein um sie zu holen."
"Das war ja auch deine Idee."
"Scheiß doch drauf wessen Idee es war. Stell dich nicht so an und komm her. Ich kenn mich in Yokohama sowieso besser aus."
"Wie du willst.", Liliana konnte durch ihre halb geschlossen Augenlieder einen weiteren Mann erkennen, der weniger wie ein Engel aussah und mehr wie eine Tomate. Rot vor Wut.
Er schob Dmitriy zur Seite und setzte sich zwischen ihn und Liliana auf die Bank. Er hob ihren Kopf an und ließ ihn dann mit angewidertem Gesichtsausdruck zurück auf den Sitz sinken.
"Lemon? Gibst du mir den Poncho? Sie ruiniert mir noch meine Hose.", er zog sich den blutigen Regenponcho über und bettete Lilianas Kopf auf seinen Schoß, während das Auto anfuhr. Dann griff er nach dem Tuch, dass in den Fußraum gefallen war, faltete es ordentlich und drückte es wieder auf Lilianas Wunde. So fest, dass sie aufkeuchte und spürte, wie ihr Magensäure in den Mund sprudelte. Bevor sie versehen konnte, musste sie sich übergeben.
"Verfickte Scheiße!", fluchte der Mann lauthals, riss ihren Kopf und und drehte sie gerade schnell genug auf die Seite, dass Liliana nicht an ihrem Mageninhalt erstickte. Trotzdem hustete sie panisch und der Anblick der widerlich flüssigen Masse, die zu einem Großteil aus Blut bestand, machte es nicht besser.
"Geht's?", kam es von hinterm Steuer.
"Wird schon.", Lilianas Nebenmann brachte gerade noch seine schicken Schuhe in Sicherheit und hielt entnervt ihre Haare nach hinten, während sie halb würgend, halb weinend auf dem Sitz hing.
Nachdem sie sich für zehn Minuten die Seele aus dem Leib gekotzt hatte, was ihr auch das letzte bisschen Kraft raubte, fühlte sie sich merkwürdiger Weise besser. Aber sie ahnte dass es an dem Nebel in ihrem Kopf lag und auch irgendwie an der Erleichterung. Ungefähr als hätte sie gerade ein oder zwei Gramm geraucht. Sie war gerettet. Oder? Die Beiden waren doch gekommen um sie zu retten?
"Hey! Wach bleiben!", sie bekam einen Schnipser gegen die Stirn und schreckte hoch.
"Wenn sie stirbt sind wir gearscht, Tangerine."
"Ach was!"
Liliana spürte zwar, dass sich der Druck auf ihrer Wunde verstärkte, aber der Schmerz hatte nachgelassen.
"Bleib wach!", sie spürte eine behandschuhte Hand auf ihrer Wange, dann eine Zweite. Die Kälte von Ringen und gleichzeitig die Wärme von Blut. Ihr eigenes, befürchtete sie. Sie sah ein verschwommenes Gesicht über sich und blinzelte unsicher.
"Beeil dich Lemon, sie machts nicht mehr lang."
"Liegt vielleicht daran, dass du das scheiß Tuch dauernd los lässt! Nimm die Hände aus ihrem Gesicht und drück weiter!"
Aus Lilianas Mund lief noch ein bisschen Blut, dann ließ sie den Kopf langsam zur Seite sinken. Sie atmete flach.
"Lass sie nicht einschlafen, wir sind gleich da."
Liliana musste fast ein bisschen lächeln. Wie lange war es her, dass sich jemand so um sie gesorgt hatte? Wobei Sorge wahrscheinlich nicht das richtige Wort war, wenn sie nicht einmal wusste, warum die beiden Ritter in glänzenden Regenponchos überhaupt zurück gekommen waren. Aus Sorge bestimmt nicht.
Der Wagen kam zum Stehen, Türen knallten und zwei Stimmen diskutierten außerhalb des Autos, dann gingen die Türen wieder auf und Liliana wurde vom Rücksitz gezogen. Ihre Beine schliffen kurz über den Boden, dann wurde sie mit einem Ruck hoch gezogen. Sie versuchte die Augen zu öffnen, zu erkennen wo sie war. Sie sah nur Flimmern und Sterne und ein paar dunkle blaue Augen, kurz schwarz, eine Halle, einen Fahrstuhl, kurz schwarz, eine Tür knallte und sie spürte weichen Untergrund, dann sah sie nichts mehr und schließlich wurde ihr Körper taub.

Kill Me Pretty [Bullet Train]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt