Die Gestalt einer untersetzten Frau mit hüftlangem, wehenden Haar, tauchte auf einem gen Innenhof gerichteten Balkon auf, als die eiserne Tür hinter Tangerine ins Schloss viel.
"Keine Bewegung.", etwas blitzte im Mondlicht auf; der blanke Lauf eines Gewehres.
"Miss Mariko? Nehmen Sie die Waffe runter, ich bin es.", Lemon machte mit erhobenen Händen einen Schritt auf die Frau zu.
So altersschwach sie auch aussehen mochte, sie schwang sich mit Leichtigkeit über das Geländer und rutschte die Regenrinne hinunter, richtete die kleine Brille auf ihrer Nasenspitze und trat auf Lemon zu.
"Gabriel.", sie senkte ihre Waffe, begutachtete ihre unangekündigten Besucher, "Und wer noch?"
Lemon warf einen Blick zu Tangerine, "Jetzt sind wir aufgeflogen, was?"
Tangerine stöhnte auf, "Wie auch immer."
"Das ist mein Bruder."
"Hayden also.", die Frau musterte Tangerine eindringlich, der zähneknirschend seine Pistole im Trenchcoat verschwinden ließ, "Ich hörte schon von dir."
"Hayden?", Liliana unterdrückte ein Kichern.
Tangerine durchbohrte sie mit einem stechenden Blick, "Für dich immer noch Tangerine."
Liliana war so abgelenkt gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie die Frau von der einen auf die andere Sekunde hinter ihr stand. Sie fuhr mit den Fingern bedächtig durch Lilianas Haar, als würde sie heraus finden wollen, ob Liliana natürlich Blond war. "Und du bist?"
"Liliana Denissow."
Die Frau schreckte zurück, als hätte sie gerade in Dreck gefasst. Pickiert entriss Liliana ihr die Haarsträhne und strich sie hinters Ohr.
"Warum seid ihr gekommen, Gabriel?"
Lemon zögerte, tauschte einige unentschlossene Blicke mit Tangerine.
"Wir können ihr nicht so einfach vertrauen.", Tangerine flüsterte laut genug, dass Liliana es gerade so verstehen konnte, doch auch die Frau war alles Andere als taub. "Wenn ihr schon her gekommen seid, ihr habt keine andere Option."
Lemon seufzte, erzählte der Frau eher widerwillig von der misslichen Lage, in der die Drei sich befanden. Die Sie lauschte aufmerksam, doch sie ließ mit ihren kleinen, misstrauisch zusammen gekniffenen Augen niemals von Liliana ab. Der Blonden kroch ein unangenehmes Schaudern über den Rücken.
"Und jetzt, braucht ihr was? Bett? Oder erst warme Mahlzeit?"
"Miss Mariko, Sie retten uns das Leben.", Lemon verbeugte sich tief. Über die Züge der Alten huschte der Schatten eines Lächelns und sie klopfte Lemon auf die Schulter.
"Nichts zu danken, Jungchen. Altem Freund ich helfe immer gern. Nun werde ich zu Essen vorbereiten,", ihr Blick traf Lilianas, "Sie wird helfen."
Liliana biss sich auf die Lippe.
"Wir können alle helfen.", warf Lemon ein, der den abgeneigten Blick gesehen hatte.
"Ihr ruht euch aus. Wir schaffen das zu zweit."
Miss Mariko ließ keine Weiderrede zu. Sie lächelte schnippisch, nahm Liliana bei der Hand und zerrte sie bis in eine kleine Küche mit einer Decke die so niedrig war, dass selbst Liliana sich, mit knapp einem Meter fünfundsechzig, fast den Kopf gestoßen hätte.
Sie knallte die Tür hinter ihr ins Schloss und baute sich vor Liliana auf. Sie reichte ihr kaum bis zum Kinn, doch sie hatte eine durchaus einschüchterne Ausstrahlung, die das Gewehr über ihrer Schulter nur verstärkte.
"Du bist Frau vom weißen Tod?"
Liliana verzog das Gesicht, "Nein, der ist um die vierzig Jahre zu alt für mich."
"Werd nicht frech! Beantworte meine Fragen!"
"Nein, sein Sohn war mein fester Freund. Aber wie Sie schon gehört haben, wurde er umgebracht."
"Und warst du es?"
"Nein!", warum dachten das alle?
"Gut. Ich mag dich trotzdem nicht. Leute wie du: hier nicht willkommen."
Liliana fragte sich, was Leute wie sie denn wohl auszeichnete? Frauen? Blondinen? Russen? Und das waren nur drei der Eigenschaften, die die Meisten an ihr nicht mochten.Während Liliana widerwillig Shiitake-Pilze zerkleinerte, wechselte die Alte kein Wort mit ihr. Liliana war das Recht, denn es bot ihr Zeit zum Nachdenken. Nach dem vielen Stress hatte sie eine Menge nachzuholen, also ließ sie sich fallen und versank in den Wogen an Grübeleien, die sie angenehm nach unten zogen.
"Man, komplett weg.", Lemon wedelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht.
"Sicher, dass sie noch lebt?", scherzte Tangerine. Trotzdem standen Sekunden später beide Männer vor Liliana und Lemon rüttelte sie an der Schulter, bis sie mit einem Glucksen in die reale Welt zurück kehrte.
"Essen fassen, Prinzessin.", ihr wurde eine Schüssel Suppe entgegen geschoben. Liliana hatte keinen großen Appetit. Viel mehr stand ihr der Sinn nach etwas zu trinken. Zu lange war es her. Ihr fehlte ein wenig Luxus ...
Verwöhntes Miststück, vielleicht hatte Tangerine gar nicht so Unrecht. Sich mit der Realität zu konfrontieren fiel Liliana schwer. So viel leichter schien es, sich die Kehle mit Alkohol volllaufen zu lassen und zu warten, dass sich alle Probleme von selbst lösten.
Dimitriy ist tot. Die Erkenntnis traf Liliana auf einen Schlag, obwohl es noch immer der gleiche Gedanke war, den sie so oft an diesem Tag gedacht hatte. Er ist tot.
Sie hatte ihn verlassen, sie hatte ihn im Stich gelassen. Nachdem er gesagt hatte, sie solle es nicht schon wieder tun. Und während er ohnmächtig gewesen war? Sie hatte ihn schlecht geredet, wenn auch nur in ihrem Kopf, aber was war das für ein Verhalten? Was war sie für eine Freundin?
Ihre Augen wurden wässrig. Sie fühlte sich schwach. Sie musste sich zusammen reißen.
Liliana stand auf. Sie warf einen Blick in die verwirrte Runde, dann stürmte sie ins Freie.Die Nacht war sehr hell. Die Lichtverschmutzung fiel Liliana auf, als sie nach zwei Stunden der absoluten Schlaflosigkeit das Zimmer verließ und sich im Innenhof auf einer Bank nieder ließ. Der Himmel schien beinahe zu glühen. Und Liliana saß nur da und sah ihm dabei zu, zwischen Wolkenkratzern in dieser kleinen, kahlen Stahl-Oase.
Niemand hatte sie auf das Abendessen angesprochen, dafür war sie dankbar. Auch für das weiche Bett.
Die Daunenkissen und Decken, die Miss Mariko den Dreien zur Verfügung gestellt hatte, waren ein Geschenk des Himmels. Leider Gottes gab das Schließen ihrer Augen Liliana auf der Stelle das Gefühl, durch ein Wolkenloch in die endlosen heißen tiefen der Hölle zu fallen. Sie langte nach dem Kreuz an ihrem Hals und fuhr über die raue Oberfläche, wie Dimitriy es immer getan hatte, nachdem er-
"Darf ich?"
Liliana sah zu Tangerine auf und rückte ein Stück bei Seite um auf der Bank Platz für ihn zu machen.
"Natürlich.", sie beäugte ihn von der Seite. Seine oberen Hemdknöpfe waren geöffnet, doch seine Anzugweste trug er noch immer. Auch, wenn seine Haare nicht mehr die sonstige Ordentlichkeit aufwiesen, machte er nicht den Anschein, als hätte er geschlafen. Er hatte sein Jackett lose über die Schultern geworfen und rieb sich über die müden Augen, dann sah er Liliana an.
"Was schaust du so?"
Liliana senkte den Blick, doch er fiel auf Tangerines Unterarme. Er hatte die Ärmel hoch gekrempelt, so dass Liliana nun seine Tattoos auffielen; zwei geschwungene Vögel, über jeder Hand einer.
"Haben die eine Bedeutung?"
"Warum fragst du?"
"Deine Affinität zu Vögeln fällt auf."
"Ach ja?"
"Erst dein Feuerzeug und dann auch noch gleich zwei Tattoos? Also bitte."
"Durchaus interessant worauf du so achtest."
"Ist das so ein Freiheits-Ding? Wegen weg fliegen und so?"
Tangerine betrachtete sie für eine lange Sekunde. "Was war vorhin los?"
"Wow, du kommst schnell zum Punkt.", Liliana zog die Augenbrauen in die Höhe, "Was interessiert es dich?"
"Wie hast du es gemacht?"
"Was?"
"Wie hast du ihn umgebracht?"
"Wen?"
"Den Sohn des weißen Todes."
Liliana sah ihn entgeistert an. Jetzt mal ehrlich. "Ihr spinnt ja wohl alle komplett."
"Du hast ihn also nicht umgebracht? Und was soll dann dieses peinliche Verhalten?"
"Was willst du eigentlich von mir?"
"Was ist dein Geheimnis, Liliana?"
Tangerines Gesicht war dem ihren so nah, dass sie seinen Atem spürte und sein Parfüm roch. Während sie tief in seine meerblauen Augen blickte fiel ihr auf, dass er sie das erste Mal beim Namen genannt hatte. Sie legte den Kopf schief, zog die Augenbrauen zusammen.
Tangerine ließ nicht von ihr ab, "Das zwischen dir und dem Sohn, das war vieles, aber ganz sicher keine Beziehung."
"Was weißt du schon ..."
Tangerine lachte leise. Liliana verärgerte sein amüsierter Ausdruck, "Hör auf so blöd zu lachen, Arschloch."
"Sag das nochmal."
"Halt dein Maul und verpiss dich, du Pisser. Hörst du schlecht?"
"Ich verzichte. Wir müssen alle zusammen arbeiten und ich habe keine Lust, dass du schon wieder mit einem verdammten Alleingang alles zerstörst."
"Mein Vater hat immer gesagt: У кого что болит, тот о том и говорит."
"Ach ja?"
"Das bedeutet: Jeder spricht von dem, was ihm weh tut, beziehungsweise, alle reden immer über die gleichen, alten Probleme. Anstatt sie zu lösen. Und mein Problem ist gelöst, also was soll ich sagen?"
"Hört sich an, als wäre dein Vater genau so ein Arschloch wie dein kleiner Freund."
"Oh, ja. Wahrscheinlich ist er das. Aber weißt du was? Es geht dich weder irgendwas an, noch interessiert es mich."
"Du lügst extrem viel."
"Immer wieder eine Freude sich mit dir zu unterhalten.", Liliana erhob sich.
"Ehemalige Auftragskillerin lässt sich von kleinem Jungen mit Drogenproblemen herum schubsen. Erstaunlich."
"Leck mich, ehrlich. Ich steck dir deine tollen Behauptungen gleich in den Arsch."
"Shit, jetzt hab ich aber Angst."
"Du hast ja keine Ahnung, wie er drauf war. Und du vergisst außerdem, wer sein Vater ist."
"Hätte er mir solche Dinge angetan, ich hätte ihn umgebracht."
"Ich widerhole mich; du hast absolut keine Ahnung.", Liliana lächelte und wandt sich von ihm ab, doch Tangerine zog sie am Handgelenk zu sich zurück. Liliana sträubte sich.
"Lass mich los."
"Lass nicht so mit dir umgehen. Steh für dich selbst ein."
"Fick dich kreuzweise."
"Ich meine es ernst."
Liliana neigte den Kopf in seine Richtung, ließ ihr Haar in der nächtlichen Brise wehen. Sie beugte sich vor, bis ihres und Tangerines Gesichter auf einer Höhe waren und stützte sich mit einer Hand auf seinem Oberschenkel ab. Sie fuhr mit einem Finger durch seine Haare, bis zu seinem Hals und zog sein Gesicht zu ihrem, "Ich auch."
"Bleib hier, du kleine Göre!", brüllte er ihr hinterher, "Hör mir ein verdammtes Mal zu!"
Liliana verschwand winkend ins Innere des Hauses. Tangerine hatte Recht, sie musste sich nicht alles gefallen lassen.
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Kill Me Pretty [Bullet Train]
AcciónSehe ich nicht hübsch aus mit dieser Haut aus Porzellan und Augen aus Glas? Dein kleines Püppchen. Deine Worte sind wie Zucker, Aber Verwesung riecht auch süß.