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"Maximovna ...", Liliana begutachtete die junge Frau im pinken Pollunder, die, zusammen mit einem japanischen Mann im Türrahmen stand und sie frech angrinste. Der kleine Prinz, wie ihre Familie sie getauft hatte, "Какого черта ты здесь делаешь?"
"Полагаю, я могу спросить это у тебя. Я не видел тебя с тех пор, как ты съебался с моим гребаным братом. И что? Я вижу, ты тоже алкоголик."
"Halt die Klappe.", Liliana stellte die Flasche auf der Theke ab und nahm die Kapuze vom Kopf, "Was willst du von mir?"
"Mein Bruder ist also tot?", der Prinz ignorierte Lilianas Frage, schlenderte auf sie zu und fuhr mit den Fingerspitzen über den silbernen Aktenkoffer in ihren Armen.
"Warum fragst du überhaupt?"
"Das erleichtert dich, oder? Es freut dich sogar, hab ich recht?", ihre Augen glänzten eisig und leer, genau wie Dmitriys.
"Warum sollte es?"
"Du musst mich nicht anlügen, Lili, alle wussten, dass du nur wegen des Geldes mit ihm zusammen warst.", sie gluckste, "Sonst hatte mein Bruder schließlich nicht viele Qualitäten. Der kleine Mistkerl."
"Das stimmt kein bisschen."
"Was?", der Prinz ließ von dem Koffer ab und sah Liliana mitleidig an, "Sag mir nicht, du hast ihn geliebt?"
Liliana schwieg trotzig. Nur, dass sie erleichtert war, dass er tot war, hieß nicht, dass sie ihn nicht geliebt hatte, oder? Wäre sie dann nicht schon früher gegangen? Vielleicht, aber warum war sie geblieben?
Aus Liebe oder aus Angst?
Der Prinz lachte kalt auf, "Dir würde ich sogar zutrauen, dass du ihn selbst umgebracht hast."
"Jetzt wirst du echt frech."
"Warum? Ist das nicht dein Job?"
"Gewesen."
"Achso? Warum bist du dann hier? Sag mir nicht, du fährst nur eine Runde spazieren, das kauf ich dir nicht ab."
"Ich besuche jemanden."
"Лжец."
"Ich lüge nicht."
"Achso. Und deshalb hast du auch diesen Aktenkoffer in der Hand?"
Liliana biss sich auf die Lippen, "Es geht dich einen Scheißdreck an, was ich hier mache."
"Stimmt, eigentlich ist es mir auch absolut egal. Aber du hast etwas, was ich haben will.", der Prinz strich wieder über den Koffer, die silbern glänzende Oberfläche und den Lokomotivsticker am Griff.
Liliana machte einen Schritt zurück, "Das kannst du dir sowas von abschminken."
Der Prinz langte nach dem Aktenkoffer, doch sie bekam Liliana nur an den Haaren zu greifen. Liliana ließ den Koffer mit einer Hand los und holte entnervt aus, doch der Prinz wich aus und zog eine Pistole hervor.
"Was willst du überhaupt mit dem Koffer?", Liliana schob sich an ihrer Angreiferin vorbei und rammte ihn ihr in die Seite. Sie suchte in ihrer Jackentasche verzweifelt nach dem Handy, das Tangerine ihr gegeben hatte.
"Was willst du mit dem Koffer?"
"Es ist unhöflich eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten.", sie versuchte, durch die Tür zu flüchten, doch der Japaner versperrte ihr den Weg.
"Meinen Vater umbringen."
Liliana stockte und starrte den Prinzen fassungslos an, "Du willst den weißen Tod umbringen?"
"Genau genommen macht er das.", der Prinz deutete auf den Mann, der den Blick beschämt gen Boden gesenkt hielt.
"Und wozu brauchst du dann den verdammten Koffer?"
"Jetzt bist du erstmal dran. Wozu brauchst du den Koffer?"
Liliana zögerte. Sie ließ die Augen durch das Abteil wandern, suchte nach Fluchtwegen, die sie möglichst schnell zu Lemon und Tangerine zurück bringen würden. Sie machte einige Schritte auf den Prinzen zu, hielt den Koffer in ihre Richtung, dann griff sie die Wodkaflasche und schlug sie ihr gegen den Hinterkopf. Der Prinz taumelte zurück und Liliana rannte mit erhobenem Koffer auf den Mann zu, um auch ihn K.O. zu schlagen, doch bevor sie sich versah, hatte er ihn ihr entrissen und stieß ihr mit dem Ellenbogen in die Seite. Liliana verpasste ihm einen Tritt in die Magengrube, der ihn zum aufkeuchen brachte, doch im gleichen Moment wurde sie an den Schultern zurück gerissen und mit dem Gesicht auf die marmorne Theke gedrückt. Sie bewältigt es, sich umzudrehen und rammte dem Prinzen ihre Absätze gegen die Brust, dann griff sie nach einer weiteren Flasche und warf sie nach dem Mann, der reflexiv den Koffer fallen ließ, um die Flasche abzufangen. Liliana warf sich in Richtung Koffer, doch der Prinz war schneller. Von ihrem kräftigen Stoß wurde Liliana zur Seite geworfen und prallte gegen den toten Mann, der noch immer in seinem Sessel am Fenster lag. Innerlich fluchend fühlte sie, wie sich der Inhalt der Tequila Flasche, die in seinem Arm gelegen hatte, sich auf ihrem Oberkörper ausbreitete, dann bekam sie den Koffer gegen den Hinterkopf und sackte auf seinem kühlen Körper zusammen.
"Ты ебаный пиздюк.", sie bekam das Messer in ihrer Jackentasche zu greifen und ging wiederrum auf den Prinzen los. Die Klinge erwischte die Dunkelhaarige am Hals, dann bekam Liliana sie bei den Haaren zu packen, zog sie zu sich und rammte ihr das Messer mit voller Wucht in die Seite. Sie stöhnte schmerzerfüllt auf, doch leider war der Erfolgsmoment für Liliana nur sehr kurzweilig. Der Mann stand ohne Vorwarnung hinher ihr, schlang die Arme um ihren Bauch und presste sie mit aller Kraft an sich. Schwarze Punkte tauchten vor Lilianas Augen auf, während sie die Wunde an ihrer Taille reißen spürte. Die Stelle wurde warm und feucht, während sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Als der Mann sie endlich los ließ, gaben ihre Knie nach. Sie hielt sich an der Armlehne eines Sessels fest, um durchatmen zu können, dann traf sie ein spitzer Absatz in die Seite. Liliana wimmerte kläglich.
"Mein Gott, du bist ja erbärmlich. Was ist nur mit dir passiert?", der Prinz sah schadenfroh auf sie hinab, "So geschwächt hab ich dich ja noch nie erlebt. Wer das geschafft hat, den würde ich gerne kennenlernen."
Liliana hörte das Quietschen der Zugbremsen ungewöhnlich laut und stechend.
"Naja,", sie bekam noch einen letzten Tritt gegen ihre Wunde, "Wie gern ich auch weiter mit dir reden würde, ich hab leider noch zu tun. Vielleicht sieht man sich ja mal auf einen Kaffee."
Liliana sah zu der Brünetten auf, hob eine zitternde Hand, um sie am Knöchel zu greifen, der Prinz stolperte und ließ den Koffer fallen, in dem Moment, in dem sich die Tür des Abteils öffnete.
"Her mit dem verdammten Koffer!", Tangerines aufgebrachte Stimme klang für Liliana wie der himmlischste Engelsgesang. Verschwommen sah sie, wie er auf den Koffer am Boden zu hechtete, doch der Prinz war wieder schneller. Liliana vernahm einen dumpfen Schlag, kurz wurde ihre Sicht von dem Japaner verdrängt, der neben ihr zu Boden ging, als sie wieder sehen konnte, war der Prinz samt Koffer verschwunden.
"Verdammte, verfickte, verkackte Scheiße!", Tangerine trat gegen die Tür des Shinkansen, der sich in diesem Moment wieder in Bewegung setze und jegliche Chancen, dem weißen Tod zumindest sein Geld zurück zu bringen, am Bahnhof zurück ließ. Als Tangerine wieder das Abteil betretat, hatte Lemon Liliana aufgeholfen und sie auf einem gemütlichen Sessel abgesetzt. Tangerine ließ sich neben ihr nieder und vergrub das Gesicht in den Händen.
"Warum hast du nicht Bescheid gesagt? Wozu hab ich dir das verfickte Handy überhaupt gegeben?"
"Keine Zeit."
"Keine Zeit? Schon, als du abgehauen bist hättest du anrufen können!"
Zerknirscht betrachtete Liliana ihre Fingernägel.
"James.", Lemon bedachte sie mit einem Kopfschütteln, "Wenn du nur nicht so ein verdammter James wärst."
"Lemon, es reicht! Hör auf mit den Thomas-Metaphern!", Tangerine raufte sich die Haare, sein Handy klingelte. Er machte einen tiefen Atemzug.
"Ja? Natürlich hab ich den Sohn und den Koffer, verdammt nochmal. Was? Es war vereinbart, dass wir in Kyoto aussteigen.", er rieb sich über die Augen, Liliana und Lemon hielten gleichzeitig die Luft an, "An der Nächsten Station mit dem Sohn und dem Koffer, sonst wird der ganze Zug abgeknallt, verstanden."
"Wir sind gefickt.", bemerke Lemon, "Einen Aktenkoffer können wir auftreiben, aber einen Typen, der sich als Sohn des weißen Todes ausgibt ... ich weiß ja nicht."
"Wenn du nur nicht dein eigenes Ding durchgezogen hättest!", Tangerine ballte die Hände zu Fäusten.
"Tut mir ja leid, aber ich häng da genauso drin, wie ihr!", keifte Liliana schnippisch, "Wir sind alle tot, Herrgott nochmal."
"Nicht, wenn wir uns verpissen."
"Was?", Tangerine sah Lemon entgeistert an, "Du willst weg laufen? Ist das nicht etwas unter deinem Niveau?"
"Du kannst ja gern versuchen, dem weißen Tod zu erklären, dass ein kleines Mädchen mit seinem Geld abgehauen ist und ein ominöser Killer den Sohn umgebracht hat, auf den wir eigentlich aufpassen sollten, aber ich will meine Arme gern behalten, Bro. Ich bin für weglaufen, zumindest, bis wir einen besseren Plan haben."

Die Station war in grünes Licht getaucht, das einer beachtlichen Anzahl an Neonröhren und Reklamtafeln entsprang. Zum Pech der drei sammelten sich an den Ausgängen kaum aussteigende Fahrgäste und auch der Bahnsteig schien ungewöhnlich leer.
"Ich glaubs nicht.", Tangerine zupfte seinen Trenchcoat zurecht, "Das ist wirklich peinlich, Lemon, so tief sind wir schon gesunken."
"Piss dir nicht ein.", Lemon verdrehte die Augen. Er zog Liliana die Kapuze über den blonden Haarschopf und legte die Hand fest um die Tasche, die er über der Schulter trug. Tangerine hingegen hielt seine Pistole an seine Seite gepresst und sah angestrengt aus dem Zug, welcher langsam aber sicher zum Stehen kam.
"Da hinten ist der Ausgang, auf mein Signal gehen wir los. Ihr schaut euch nicht um und ihr rennt nicht, außer es ist dringend notwendig. Du gehst zuerst Lemon, dann geht sie und ich folge. Und fallt bloß nicht unnötig auf, wenn wir Glück haben, hat keiner von denen einen Schimmer, wie wir überhaupt aussehen."

Liliana bereute es nicht, sich aufs Rennen eingestellt zu haben.
Sie hörte die gut sieben Typen, die schwer bewaffnet an einer der Türen gewartet und Tangerine und Lemon sofort erkannt hatten, über den Bahnsteig hechten, während sie hinter Lemon die Treppen zum Ausgang hinunter sprang und inständig hoffte, der Schmerz in ihrer Taille würde sie nicht ausknocken. Sie verließen endlich den Bahnhof und rannten in die kalte Nachtluft hinaus, direkt auf ein Taxi zu. Lemon riss die Tür auf und schubste erst Liliana, dann Tangerine hinein. Er selbst nahm neben dem Fahrer Platz und schlug aufgeregt die Tür hinter sich zu.
"Fahren Sie, verdammte Scheiße!"

Der Wagen raste mit irrer Geschwindigkeit. Nachdem Lemon seine Pistole auf den Fahrer gerichtet hatte, hatte er das Tempolimit vergessen. Liliana hatte die Hand flach auf ihre Wunde gepresst und versuchte ihre Übelkeit zu unterdrücken.
"Alles gut?", Tangerines Stimme war nicht viel mehr als ein Flüstern.
"Ich glaub der Schnitt ist wieder offen.", keuchte sie.
"Verdammte Kacke.", fluchte Tangerine, "Lemon? Sind wir bald mal irgendwo angekommen?"
"Ja doch.", Lemon stieß dem Fahrer in die Seite, der eine scharfe Kurve hinlegte und in eine schmale Straße einbog. Liliana wurde aus ihrem Sitz gerissen, doch sie spürte Tangerines Arm, der sie sanft zurück drückte und sie fest hielt, bis der Wagen endlich zum Stehen kam. Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich hinter Lemon her auf eine eiserne Tür zu. Der Taxifahrer startete ohne eine weitere Frage den Motor durch und brauste davon.
"Hier wohnt eine alte Freundin. Ich bin bei einem anderen Auftrag schon bei ihr untergekommen. Sie ist unsere einzige Hoffnung."
Lemon zog eine Augenbraue hoch und schmunzelte, als sein Blick auf Tangerine fiel, der noch immer Lilianas Hand fest in der seinen hielt. Sofort ließ er sie los und räusperte sich, "Na dann, worauf warten wir?"

Kill Me Pretty [Bullet Train]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt