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Beziehungen verändern nicht.
Am Ende, nach dem Schreien und dem Weinen und dem Flehen darum, nicht zu verlieren, was du hattest, bemerkst du, dass du in deiner nächsten Beziehung nach dem kompletten Gegenteil suchst. Aber du findest es nicht.
Es ist wie mit elterlicher Liebe. Was du nicht bekommst, suchst du dir, wo auch immer sonst du es finden kannst.
Aber am Ende bemerkst du, dass du trotzdem zu dem zurück kehrst, was dir vertraut ist. Alles andere davon stößt, wie einen Eindringling.
Da ist eine gewisse Sicherheit in diesem Schmerz und eine Erleichterung darin, sich selbst einzureden, man hätte es nicht besser gewusst, denn Veränderung ist anstrengend.
Und Menschen sind faule Lebewesen.
Du wirst in der Liebe nur das zulassen, von dem du denkst, dass du es verdienst. Aber wie willst du dein Selbstwertgefühl verbessern, wenn du immer wieder enttäuscht wirst? Die Antwort ist leicht: gar nicht.
Du lernst nur, dein Niveau soweit zu senken, dass sich ein Schlag in die Fresse wie ein Kuss anfühlt.
Und ab diesem Punkt fühlt sich ein Kuss wie ein Schlag in die Fresse an, also lässt du dich lieber weiter schlagen und die Blaulichter kommen vielleicht von der Diskokugel und die Tränen sind nur tanzschweiß. Und du wischst sie weg und tanzt weiter.

Wie viele Tränen Liliana davon getanzt hatte, hatte sie nicht gezählt und auch, hätte sie es, wäre sie in diesem Moment, als sie alle auf einmal zurück kamen, nicht auf die Menge vorbereitet gewesen.
Sie flossen einfach aus ihren Augen, als hätte jemand einen Wasserhahn aufgemacht. Und einen Ofen in ihrem Kopf. Und ein Fenster in ihrem Herzen.
Als sie sich umdrehte und davon laufen wollte, erinnerte sie sich, dass sie nicht alleine in diesem Zug vor ihrem toten Freund stand.
"Wo willst du denn hin?", Tangerine griff sie bei der Taille und zog sie zu sich zurück. "Das ist echt nicht der Moment, Kleine."
Doch was war schon der Moment?
Jetzt war Liliana ihr Tod sicher und doch fühlte sie ein ungewohntes Gefühl von ... Freiheit?
Sie spürte es wie einen Vogel um ihr Herz flattern, sich auf die Fensterbank setzten. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, im gleichen Moment, in dem ihr erneut die Tränen kamen. Sie ging auf Dmitriy zu, Tangerine ließ sie unentschlossen los. Sie griff nach seinem Gesicht, sah in seine blutunterlaufenden Augen.
Das waren sie wortwörtlich.
Lange, rote, blutige Tränen liefen über seine Wangen, als wären seine Augäpfel geplatzt, doch er war unversehrt. Äußerlich.
Liliana strich ihn eine Haarsträhne aus dem Gesicht, fuhr über sein schlecht rasiertes Kinn und gab ihm eine saftige Ohrfeige. Dann stach ihr der Lauf einer Pistole in die Seite.
"Pass bloß auf.", sie spürte Tangerines angestrengtes Atmen an ihrem Hals. Er beugte sich an ihr vorbei und musterte Dmitriy genau.
"Verdammte Scheiße.", Lemon tat es ihm gleich, "Erst die Frau und dann auch noch sein Sohn. Das sind eine Menge weiße Tote."
"Ist ja ziemlich blöd gelaufen für euch.", Liliana grinste, "Sobald dieser Zug in Kyoto hält, seid ihr sowas von tot."
"Du hast eine ziemlich große Klappe, du kleine Göre. Herzloses Miststück. Man könnte meinen, du würdest etwas mehr um deinen lieben kleinen Freund trauern."
"Du hast ja keine Ahnung.", Liliana wischte sich über das Gesicht, sie atmete eine Sekunde tief durch, bevor sie weitersprach, "Wollt ihr ihn jetzt einfach so liegen lassen, oder was?"

Liliana hockte mit angezogen Beinen auf ihrem Platz und beobachtete Tangerine und Lemon eindringlich. Nachdem Tangerine Dmitriys Gesicht mit einem Taschentuch gereinigt hatte und Lemon seine toten Augen hinter einer grellen bunten Momonga Plastikbrille versteckt hatte, sah Dimitriy fast aus, als würde er nur ein kurzes Nickerchen halten. Nicht viel anders als die Male, die Liliana ihn schon high und betrunken in irgendeiner Bar im Nirgendwo aufgelesen hatte.
"Wir müssen sicher stellen, dass das Arschloch unter keinen Umständen diesen scheiß Zug verlässt! Du patrouillierst am Ausgang, wenn du irgendjemanden mit diesem Aktenkoffer siehst erledigst du das, egal wer es ist.", auf Tangerines Stirn glänzte der Schweiß. Lemon richtete seinem Partner die Krawatte und grinste.
"Und wie mach ich das? Red ich mit ihm oder red ich mit ihm?"
"Keine Ahnung.", zischte Tangerine mit aufeinander gepressten Lippen, "Erzähl ihm die Geschichte wie Gordon Percy getroffen hat und Percy jetzt aus seinen verdammten Augenhöhlen blutet!"
"Das heißt kaltmachen?"
Tangerine wandt sich von Lemon ab, der die Augen rollte und in Richtung Ausgang davon schlenderte.
"Und jetzt zu dir.", er ließ sich neben Liliana nieder und begann in seinem Jackett zu wühlen, "Ich vertrau dir nicht, deshalb wirst du schön hier bleiben. Wenn du irgendetwas verdächtiges siehst, dann schreibst du oder rufst sofort an."
Er knallte ein weiteres Handy vor Liliana auf den Tisch, dann zog er einen Kabelbinder hervor, mit dem sich Liliana wortlos an den Stuhl ketten ließ. Sie schwieg, bis Tangerine aufstand, seine Haare richtete und davon ging, sobald er außer Sichtweite war, zog sie mit der anderen Hand das Messer hervor und befreite sich Mühelos von ihren Fesseln. Sie schnappte das Handy und warf noch einen langen Blick zu Dmitriy. Voller Hass und Genugtuung.
Von diesem Moment war sie schon in ach so vielen Träumen heimgesucht wurden und jetzt war er endlich gekommen. Und er fühlte sich noch besser an, als alles, was sie sich hatte vorstellen können.
Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und machte sich in Richtung Ausgang davon. Soweit sie sich erinnern konnte, hielt ein Shinkansen an jedem Bahnhof nur eine Minute und diese Minute neigte sich dem Ende zu. Sie hetzte durch den nächsten Abteil, der in lilanes Neonlicht getaucht und voll mit Momongas war und in der Mitte ein lebensgroßer, der mit seinem fülligen Körper den kompletten Gang einnahm. Liliana versuchte sich, an dem Maskottchen vorbei zu drücken und schubste es schließlich entnervt zur Seite, doch den Ausstieg verpasste sie knapp. Sie trat ärgerlich gegen die Tür und fluchte laut, bis sie bemerkte, dass eine weitere Person hinter ihr stand. Im Augenwinkel dachte sie kurz, Tangerine hinter sich zu erkennen, doch auf den zweiten Blick sah der Typ mit Fischerhut und schwarz gerahmter Brille ihm in keinster Weise ähnlich.
"Das diese Züge immer nur so kurz halten.", fluchte er. Liliana stimmte ihm mit einem verlegenen Lachen zu und versuchte, den braunen Blutfleck auf ihrem Hemd mit ihrer Jacke zu verdecken.
"Die Dame.", der Mann zog seinen hässlichen Hut, dann stolperte er wieder davon. Just in diesem Moment bemerkte Liliana etwas, was sie für einen kurzen Moment den Atem anhalten ließ; der Mann trug einen silbernen Aktenkoffer. Sie huschte ihm hinterher und sah gerade noch, wie er ins nächste Abteil verschwand. Sie sah sich um, doch weder Lemon noch Tangerine waren irgendwo zu sehen, also folgte sie ihm.
Er legte eine beachtliche Strecke zurück, ließ mehr als die Hälfte der 16 Abteile hinter sich und verschwand schließlich durch eine Tür, die die Aufschrift "Lounge" trug. Liliana fiel zurück und ließ sich in einem Sitz nieder. Nach 10 Minuten, als Liliana schon in Betracht zog, ihm doch zu folgen, kam er zurück. Ohne den Koffer, wie sie es erwartet hatte.
Liliana zog ihre Kapuze tief ins Gesicht, als er an ihr vorbei ging, dann verschwand sie unauffällig durch die Schiebetür.
Den Raum füllte ein angenehm dämmriges Licht, das von einer Minibar auf Lilianas Rechten ausging. Sie schlenderte zur Theke hinüber, schnappte sie eine Flasche Wodka aus dem Regal und schnippte den Deckel zur Seite. Sie verschüttete vor Schreck fast den kompletten Inhalt über den Boden, als sie den Mann bemerkte, der in einem Sessel am Fenster saß und den Kopf in ihre Richtung gedreht hatte.
Einige Sekunden starrten beide sich an. Liliana runzelte die Stirn und machte einen Schritt auf ihn zu. Noch einen, als er sich nicht rührte. Sie schnappte ihm die Sonnenbrille vom Gesicht, doch seine Augen sahen ziemlich mausetot aus. Sie riss die Decke von ihm und starrte auf den riesigen, blutigen Fleck, der sich über seinen weißen Smoking ausgebreitet hatte.
"Scheiße.", sie setzte die Sonnenbrille auf und nahm einen Schluck aus ihrer Flasche. War heute ihr Glückstag? Erst der Koffer und dann auch noch der Typ, der höchstwahrscheinlich Dmitriy umgebracht hatte? Nun, den Koffer musste sie erst einmal finden.
Sie nippte an ihrer Flasche, arbeitete sich ohne große Eile durch die Regale und Schubladen. Im Mülleimer fand sie den Koffer schließlich und zog ihn mit einem Ruck hinaus. Am Henkel klebte ein Lokomotivsticker; Lemon, kein Zweifel.
Nun brauchte sie nur den Koffer zurück bringen und dann konnte sie sich vielleicht an der nächsten Haltestelle verpissen und-
"Wusste ich doch, dass ich dich gesehen habe.", in Zeitlupe drehte sie sich um und erblickte die Frau, die soeben das Abteil betretat. "Рад снова видеть тебя, Lili."

Kill Me Pretty [Bullet Train]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt