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"Lili."
Liliana hatte die Augen geschlossen.
"Lili?"
Aber sie schlief nicht.
"Lili!"
Sie war gut im so-tun-als-ob.
"Küss deine Prinzessin doch wach."
"Halt dein Maul, Arschloch."
"Na hör mal. Wir sind nur wegen dir zurück gefahren. Du könntest uns ruhig danken."
"Sie kann mir danken.", plötzlich trat Dmitriy Liliana unter dem Tisch gegen das Schienbein. Sie rührte sich nicht, öffnete aber die Augen.
"Na endlich."
Liliana zwang sich zu einem Lächeln. Sie ließ die Augen wandern, über Lemon und Tangerine die sich nun neben die Beiden auf den Viererplatz gesetzt hatten. Dann fiel ihr Blick auf ihr Handgelenk, das mit einem Kabelbinder an die Armlehne gekettet war. Sie warf einen Seitenblick zu Tangerine, der neben ihr saß.
"Ich dachte keine Kabelbinder?"
"Du hast deine zweite Chance vorhin verspielt.", Lemon zuckte die Schultern.
"Wie vorhin? Was für eine zweite Chance, Lili? Sag schon!"
"Ganz ruhig bleiben, Prinzessin.", Lemon legte Dmitriy einen Arm um die Schulter, ,,Da hast du gerade deinen Schönheitschlaf gehalten."
"Hast du was mit den Bastarden angefangen oder was?", schnauzte Dmitriy.
"Nein, natürlich nicht.", Liliana wischte sich mit ihrer freien Hand seinen Speichel aus dem Gesicht, aber die Antwort stellte ihn nicht zufrieden.
"Lüg mich nicht an! Ich weiß wie leicht du zu haben bist."
"Ich lüg nicht!", verteidigte Liliana sich, doch es schien sinnlos. Dmitriys Augen loderten vor Zorn.
"Du liebst mich nicht."
"Doch!"
"Warum hast du mich dann so im Stich gelassen? Das ist alles deine Schuld."
"Nein, ich-"
"Jetzt haltet beide mal die Luft an. Ihr könnt euch in 2 Stunden weiter streiten, wenn wir euch samt dem beschissenen Koffer deinem Papochka übergeben haben. Eure Beziehungsprobleme interessieren hier wirklich kein Schwein!", Tangerine rieb sich entnervt über das Gesicht. Dmitriy verstummte und kehrte in seine übliche, nichtssagende Haltung zurück. Aber seine Augen ruhten weiter auf Liliana. Es machte sie fertig, dass sie nie wusste, was er dachte.
"Wo wir gerade dabei sind, Lemon ... wo ist der Koffer?"
"Hab ihn sicher verstaut.", Lemon deutete in Richtung Kofferablage vor dem Eingang des Abteils. Tangerines linkes Auge zuckte, als er sich vor lehnte.
"Du gehst jetzt den verdammten Koffer holen, Lemon!"
"Is' ja gut.", Lemon hob beschwichtigend die Hände und schlenderte davon.
"Ich kann nicht mehr, verdammte scheiße.", Tangerine lehnte sich in seinem Sitz zurück, da klingelte sein Handy.
Er strich sich die Haare zurück, stand auf und drehte sich von den Beiden weg, um den Anruf anzunehmen.
"Hallo? Ja, wenn du das Arschloch mit den dummen Gesichtstattoos meinst, hab ich ihn.", er wippte etwas unruhig umher und warf einen Blick in die Richtung, in die Lemon verschwunden war, ,,Natürlich hab ich den Koffer. Kyoto Station mit dem Sohn und dem Koffer, wie geplant."
Er steckte das Handy gerade ein, als Lemon zurück kam. Er wirkte angespannt, als er sich zu Tangerine beugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Tangerine wurde schlagartig bleich.
"Bitte was?!"
"Und wenn ich's dir sage, das Ding ist weg."
"Wie kommst du überhaupt auf die Idee, es wäre schlau das Scheißteil da liegen zu lassen! Das ist eine verfickte Millionen, Lemon!"
"Keine Tarnung ist die beste Tarnung."
"Offensichtlich ist es das nicht!"
"Die Millionen ist weg?", Dmitriy grinste die Beiden schadenfroh an, ,,Mein Vater wird euch umbringen!"
"Familie ist wichtiger als Geld, oder?", Lemon zuckte ratlos die Schultern.
Tangerine sah mit zusammen gepressten Lippen zwischen den Beiden hin und her.
"Ich glaube, ihr versteht nicht ganz mit wem ihr es zu tun habt.", mischte Liliana sich ein, ,,Wenn er euch erst einmal hat, ist es vorbei. Ihr werdet darum betteln, dass er euch endlich umbringt."
"Wir müssen diesen verdammten Koffer finden, Lemon!"
"Ist ja gut, ich geh ja schon."
"Gut, ich warte hier. Geb Bescheid, wenn du irgendwas wichtiges gefunden hast.", Tangerine wedelte mit seinem Handy.
"Klaro!", Lemon ging davon. Für seine Situation sah er noch ziemlich gut gelaunt aus, fand Liliana.
"Geht es nicht schneller, wenn ihr Beide den Koffer sucht?", fragte sie Tangerine, gerade als er sich neben ihr nieder gelassen hatte.
"Na, sicher. Irgendwer muss ja hier bleiben und aufpassen, dass ihr nicht abhaut."
"Das machen doch die Dinger.", Liliana deutete auf den Kabelbinder.
"Ist auch besser so."
"Und was, wenn ich mal aufs Klo muss?"
"Sei einfach leise, ja?"
"Aber ich muss mal aufs Klo!"
Tangerine drehte langsam den Kopf zu ihr.
"Ist das dein verdammter Ernst?"
Liliana nickte hastig.
Als Tangerine tatsächlich ein Taschenmesser hervor zog und begann, die Zahnung zu öffnen, löste Dmitriy sich aus seiner Starre.
"Du wirst sie nicht gehen lassen.", kläffte er Tangerine ins Gesicht, ,,Sie ist ein verlogenes Miststück! Sie wird abhauen, das weiß ich!"
"Wird sie nicht. Dafür sorge ich.", Tangerine stand auf und ließ Liliana auf den Gang, dann griff er sie beim Handgelenk. Dmitriy sah nun nur noch unzufriedener aus.
"Lili! Du bleibst hier, verdammte scheiße! Willst du mich schon wieder im Stich lassen?"
Liliana musste schlucken, aber, dass Dmitriy noch immer sicher an den Sitz gefesselt war, gab ihr einen Schub an Selbtbewusstsein.
"Wir sind ja gleich wieder da."
"Achso? Jetzt ist es schon wir? Verstehe.", Dmitriys Gesicht wirkte verkrampft. Er drehte sich von Liliana weg und schloss die Augen. Ihr Herz pochte gegen ihre Brust als würde es gleich heraus springen, als sie sich umdrehte und in Richtung der Schiebetür ging, hatte sie einen Kloß im Hals.
"Warum lässt du ihn so mit dir umgehen?", während Tangerine sie durch die Abteile zog, schaute er aufmerksam hin und her, immer auf der Suche nach dem silbernen Aktenkoffer.
"Was meinst du?"
"Sonst hast du doch so eine große Klappe."
"Du kennst weder mich noch ihn. Er ist nicht immer so."
"Wenn er auch nur halb so psychotisch ist, wie sein Vater, tust du mir leid."
"Ich brauch dein Mitleid nicht."
"Wie du willst.", Tangerine blieb stehen und deutete auf die Toilettenkabine, ,,Beeil dich."
Sein Griff löste sich und er schob Liliana in die Kabine. Die Tür schloss sich und sie ließ sich erschöpft auf den Klodeckel fallen. Sie rieb sich ihr Handgelenk, das rot von ihren Fesseln war und zog die Beine an. Für eine Sekunde legte sie ihr Gesicht auf den Knien ab und starrte nur nachdenklich an die Wand, dann stand sie auf und betrachtete sich in einem großen Spiegel über dem Waschbecken. Sie spritze sich etwas Wasser ins Gesicht, versuchte ihre Haare zu richten, die sich durch die feuchte Luft in alle Richtungen wellten und malte noch einmal ihre Wimpern nach. Sie musste jede Sekunde, die sie für sich und besonders, ohne Dmitriy, hatte, genießen.
Als sie die Mascara zurück in die Jackentasche steckte, berührte sie das Messer, das sie im Hotel mitgenommen hatte. Das hatte sie ganz vergessen. Sie spielte am Griff herum, fuhr über die scharfe Klinge. Von draußen klopfte es gegen die Tür.
"Komm gleich!", rief sie. Ihr Griff legte sich um die Waffe. Der Abstand war klein genug, dass sie Dmitriy von ihrem Platz aus erreichen konnte. Wenn sie Lemon und Tangerine nur kurz weg locken könnte, dann ...
Es hämmerte gegen die Tür, von außen vernahm sie gedämpft Tangerines Stimme. Sie setzte ein Lächeln auf und öffnete die Tür, ,,Fertig."
Er sagte nichts, riss sie nur auf den Gang und stiefelte in ungeheurem Tempo zurück zum Abteil. Vor der Tür wartete Lemon, die Augen starr und glasig ins Nichts gerichtet.
"Willst du mich verarschen, Lemon?!", rief Tangerine sogleich er seinen Partner erblickte, ,,Ich hab gerade echt keinen Bock auf Scherze!"
"Mein voller Ernst, Bruder.", Lemon warf einen langen Blick über die Schulter ins Abteil, ,,Der Sohn ist tot."

Kill Me Pretty [Bullet Train]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt