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Yokohama ist eine romantische Stadt. Besonders bei Nacht, sagt man sich.
Südlich von Tokio erstrecken sich die Wolkenkratzer der Großstadt in den Himmel, der Landmark Tower, Yokohama Cosmo World und immer so weiter. Die Hafenstadt ist ein perfekter Ausflugsort für Pärchen und solche, die es werden wollen.
Aber nach ein paar Malen verliert die Stadt ihren Glanz. Wenn man schließlich alles gesehen hat, fängt man an, auf die kleinen Dinge zu achten und spätestens dann bemerkt man, dass bunt angemalt- und mit Glitzer beklebter Müll immer noch Müll ist. Irgendwann sieht man die dunklen Gassen und die Augen, die einen daraus stetig beobachten, die zugezogenen Gardinen und, wenn man besonderes Pech hat, auch was dahinter geschieht. Dann bringt einem auch das beste Zimmer im InterContinental Yokohama Grand Hotel nichts, denn wer dich wirklich finden will, wird es früher oder später.
Das war ein Wissen, das einem auf alle Fälle kein schöneres Leben bereitete und ebenfalls keins, das man irgendwann, wenn genug Zeit ins Land gestrichen war, vergaß.
Liliana hatte es trotzdem versucht. Die Luxusunterkunft hatte dabei definitiv ein paar Tage geholfen. Mit Blattgold auf den Augen sah die Welt weniger erbärmlich aus. Aber es hätte schon ein Helm aus Gold sein müssen, damit sie unverletzlich gewesen wäre. Oder aus geschliffenem Diamant und Panzerglas, damit die Veilchen edel aussahen, wie ein kostbarer Lidschatten. Man musste nur wissen, welchen Tod man sterben wollte, denn, wenn die Nächte nicht mit Pailletten und weißem Puder geschmückt waren, dann mit Stille und Einsamkeit. Dafür war diese zerreißende Trauer zu jeder Zeit exquisit. Man vermochte immer den teuersten Wein auf der Zunge zu schmecken, bevor man erneut versuchte, sich in der Badewanne zu ertränken.
Liliana hatte eben das Glück, sich diesen Luxus leisten zu können, warum beschwerte sie sich überhaupt? Unglückliche Beziehungen gab es wie Sand am Meer und die Mehrheit hatte nicht den Vorteil, mit einem reichen Arschloch zusammen zu sein, da lebte sie eigentlich ein traumhaftes Leben.
Wahrscheinlich war ihr tatsächliches Problem ihre chronische Unzufriedenheit, mit der sie einfach irgendwann klar kommen musste.
Doch sie war nicht immer so unzufrieden gewesen; vor ein paar Jahren hatte die Arbeit sie schon einmal nach Japan verschlagen und seit dem hatte sie sich auf den nächsten Besuch gefreut, doch als verwöhntes Miststück lebte es sich nicht so spannend. Das war der Preis, den man zahlen musste. Wortwörtlich.

Geld ist nur leider keine Fassade hinter der man sich gut verstecken kann. Daran hätte sie denken müssen.

Die Gondel blieb am höchsten Aussichtspunkt stehen und bescherte Liliana einen perfekten Blick auf die Yokohama Cosmo World. Blinkende Lichter und laute Stimmen zerstörten die entspannte Atmosphäre etwas, aber nachdem sie sich  Kopfhörer aufsetze, war es recht aushaltbar.
Die Luft war diesen November besonders kühl und in ihrer dünnen Strickjacke fröstelte sie auch in dem geschlossenen Raum etwas. Sie kramte in ihrer Jackentasche nach ihrem Feuerzeug und zündete sich eine Zigarette, dann ließ sie ihren Blick über die Skyline Yokohamas schweifen. Wenig später setzte sich das Rad wieder in Bewegung und näherte sich gemächlich dem Boden.
Da sie die Augen kurzzeitig schloss, bemerkte sie die Person nicht, die auf einmal gegenüber von ihr in der Gondel saß. Erst als diese ihre Hand auf Lilianas Oberschenkel legte, sah sie der Person ins Gesicht. Schwarze Strumpfmaske, Kapuze und Sonnenbrille, wie man sich unkenntlich machte hatte wer-auch-immer offenbar verstanden.
"Miss Denissow, man sagte mir, ich könne Sie hier finden."
"Und Sie sind wer genau?"
"Zu Ihrer eigenen Sicherheit sollten Sie mir vorerst das Reden überlassen."
"Achso?", Liliana überschlug die Beine und begutachtete den Eindringling über den Rand ihrer Sonnenbrille, ,,Wie sind Sie überhaupt hier rein gekommen?"
"Hast du nicht gehört? Du hältst jetzt die Klappe."
"Wie unhöflich."
"Halt dein Maul, Schlampe!", zischte der Maskierte und griff mit der Hand an sein Waffenholster. Liliana schwieg verärgert.
"Nun gut, Miss Denissow. Wie uns zu Ohren gekommen ist, stehen Sie dem Weißen Tod sehr nah, insbesondere seinem Sohn."
"Und?"
"Wir sind in seinen Aufenthaltsort interessiert, da können Sie mir doch sicher weiterhelfen.", das Riesenrad kam ein weiteres Mal zum Stehen und Liliana fand sich mit dem Lauf einer Pistole an der Stirn wieder.
"Ach? Kann ich das?", sie wischte sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Wo. Ist. Er?", der Lauf stieß Liliana unsanft gegen die Stirn.
"Was weiß ich? Finden Sie ihn doch. Mich haben Sie ja schließlich auch gefunden."
Der Maskierte kochte vor Wut, wie seiner Stimme deutlich zu entnehmen war. Liliana zog scharf die Luft durch die Zähne, dann griff sie blitzschnell nach dem Handgelenk des Maskierten, riss ihn aus seinem Sitz und presste ihn gegen die Scheibe. Seine Nase brach mit einem lauten Knacken. Eine Blutspur lief langsam die Scheibe hinunter.
"Für wen auch immer Sie arbeiten, richten Sie ihm aus, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wo Dmitriy sich herum treibt und selbst wenn, geht es Sie einen kalten Dreck an. Also lassen Sie mich und meinen Freund in Ruhe, sonst gibt es Ärger.", zischte Liliana, dann drückte sie ihre Zigarette auf der Handfläche des Mannes aus, schubste ihn zurück in den Sitz und knallte ihm seine Pistole gegen die Schläfe, worauf hin er benebelt auf dem Boden zusammen sackte.
"Helfen Sie meinem Freund doch bitte! Ich glaube er ist ohnmächtig!", rief sie hysterisch, als die Gondel den Boden erreichte und die Tür sich öffnete, die Pistole ließ sie in ihrem Schultertäschen verschwinden. Kaum hatte sie den Boden erreicht torkelte sie mit dem entsetztesten Gesichtsausdruck, den sie aufsetzen konnte, in die Menschenmasse, die sich schon vor dem Riesenrad angesammelt hatte. Kaum hatte die schnatternde Menge den ohnmächtigen Mann in der Gondel entdeckt, war Liliana praktisch Luft und es war ein Leichtes für sie, sich aus dem Staub zu machen.
Als sie die Yokohama Cosmo World erfolgreich hinter sich gelassen hatte und gemächlich in Richtung Shimizugaoka Park schlenderte, war es Zeit für eine zweite Zigarette.
Hoffentlich eine Ganze, dachte sie noch, da durchkreuzte das Klingeln ihres Handys ihre Pläne und sie steckte das kleine Glück schweren Herzens zurück in die Schachtel. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Sagt man zumindest.
Irgendwie wusste sie schon, als sie den Namen auf dem Display sah, dass ihr Weg sie heute Nacht nicht in den Park führen würde und sie machte schon kehrt, bevor sie an die Seite ging, um den Anruf anzunehmen.
"любимый, wo bist du?", kam es so laut aus ihrem Handy, dass Liliana es hastig weiter vom Ohr entfernte.
"Warum? Was ist denn?"
"Du musst mich abholen. Bist du im Hotel?"
"Nein, ich wollte spazieren gehen. Was ist denn passiert, bei Gott?"
"Chinatown, Saiyuki. Und beeil dich!"
"Dmitriy! Sag mir was los ist!"
"Halt deine Klappe und beeil dich einfach. Komm vor den Bullen!"
"Dmitriy!", doch ihr Freund hatte schon längst aufgelegt. Am liebsten hätte sie laut schreiend um sich geschlagen, Dmitriy zurückgerufen und ihm gesagt, dass sie ihm nicht schon wieder aus der Patsche helfen würde. Stattdessen knüpfte sie ihre Jacke zu und rannte zurück in Richtung Hotel.

Kill Me Pretty [Bullet Train]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt