Es klopfte kräftig an der Tür.
Ein mal.
Zwei mal.
Liliana drehte sich auf die Seite und zog die Decke über den Kopf.
Drei mal.
Vier mal.
Draußen ging langsam die Sonne auf.
Die Tür wurde aufgerissen und Liliana fuhr aus ihren Kissen und riss sich die Decke vor die Brust.
"Bist du nackt?", Lemon verdeckte sich die Augen, als er den Raum betrat.
"Nein!", rief sie aufgebracht zurück und ließ die Decke sinken.
"Gut, dann kann ich ja rein kommen.", grinste Lemon, obwohl er ja gerade das eben schon getan hatte und schloss die Tür hinter sich. Er ließ sich auf der Bettkante nieder.
"Was ist denn?"
"Ich wollte nur sagen, wenn du über irgendwas reden möchtest, dann bin ich da und so.", er wedelte verlegen mit den Händen in der Luft, "Zum Reden meine ich."
Liliana stand an der Schwelle zum Suizid.
"Was soll die Scheiße, Lemon? Hat Tangerine dich geschickt?"
"Wowow, ganz ruhig Prinzessin.", Liliana sah ihn fragend an, "Ja, hat er."
"Mein Gott, ihr macht mich alle absolut verrückt. Warum macht ihr euch überhaupt Sorgen um mich? Er ist doch jetzt tot.", sie verzog das Gesicht. "Er ist tot."
"Vermisst du ihn?"
"Es gibt nicht viel vermissbarres an ihm. Ich weiß nicht ich bin ganz froh, dass er-", sie erstarrte, "Wie machst du das?"
"Was?", Lemon grinste.
"Vergiss einfach, was ich gesagt habe. Er war ein Arschloch, ja, aber davon gibt es viele."
"Come on, gestern Abend hättest du beim Abendessen beinahe geflennt und in diesem scheiß Bullet Train war deine erste Reaktion auf seinen Tod ihm eine Ohrfeige zu geben. Und dieses manische Weinen-Lachen, ich dachte du wärst durchgedreht, alter.", Lemon räusperte sich, "Niemals war der nur ein Arschloch."
"Ich weiß nicht, was du hören willst. Soll ich dir erzählen, dass er mich geschlagen hat? Oder missbraucht? Willst du das hören?"
"Hat er?"
Liliana starrte Lemon an. "Nein."
"Mich kannst du nicht anlügen."
"Tu ich nicht."
"Mein Verstand sagt mir da was anderes."
"Dein Verstand irrt sich."
"Lügen haben kurze Beine und nicht viel Ausdauer."
"Ist das auch aus Thomas, die kleine Lokomotive?"
Lemon kniff die Augen zusammen, "Das tut nichts zur Sache. Wichtig ist, dass es stimmt. Was bringt dir die Lüge? Der Sohn ist tot, was auch immer er getan hat, es wird nicht wieder passieren."
"Das kannst du nicht wissen. Er hat mich zumindest geliebt."
"Tut mir ja leid, dir die Wahrheit sagen zu müssen, aber wenn du nicht zufällig vor kurzem erst in einen mega fetten Haufen Zigaretten gefallen bist,", Lemon fuhr mit dem Finger über die verschorften runden Flecke an Lilianas Schulter und Rücken, "dann ist das keine Liebe."
Liliana spürte, die Träne über ihre Wange rollen. Sie entglitt einfach ihrem Auge, ohne dass sie irgendetwas dagegen hätte tun können. Lemons Berührungen brannten wie ihre Vorgänger.
Nicht schon wieder, nicht jetzt !
"Oh, scheiße, sorry.", Lemon räusperte sich verlegen, "Das war ja jetzt mal ehrlich nicht beabsichtigt. Aber keine Sorge; er ist jetzt tot."
Liliana konnte nicht mehr anders, als in Tränen auszubrechen. Sie lag in Lemons Armen und schluchzte sich die Seele aus dem Leib, während er ihr unbeholfen den Rücken tätschelte. Sie wollte die Kälte zurück, die ihr Herz umgeben hatte, bevor sie Dmitriy kennengelernt hatte. Bevor sie sich in ein Arschloch mit einem Drogenproblem verliebt hatte.
Er hatte ihr Herz mit einem schäbigen Feuerzeug auf einem dreckigen Löffel aufgekocht, alles auf einmal injektziert und nichts über gelassen, was noch für einen zweiten Rausch gereicht hätte. Erst kommen die Flitterwochen und bevor man sich versieht der Strick auf dem Dachboden zwischen dem alten Kinderspielzeug.
Liliana wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, "Erzähl das keinem."
"Versiegelt.", Lemon schloss seinen Mund pantomimisch ab und warf den Schlüssel davon. Liliana musste lächeln.
"Gut.", begann Lemon, nachdem einige Zeit Stille geherrscht hatte, "Wir sollten uns 'nen Plan überlegen, aber ganz fix."
Beim Aufstehen zog er Liliana mit sich. Sie schlüpfte in ihre Stiefel und die Beiden machten sich auf in Richtung Tür, doch im gleichen Moment ertönte ein Geräusch auf dem Flur, direkt vor Lilianas Zimmer.
Es war nicht laut, es war alles Andere als laut. Nur ein Klicken, als wäre eine Pistole entsichert wurden.
Lemon und Liliana erstarrten. Sie warfen sich einen kurzen Blick zu, dann schob er sie mit dem Arm hinter sich und drückte sich seitlich gegen die Wand neben der Tür. Er horchte, lud in aller Ruhe und Gelassenheit seine Pistole, dann wandt er sich mit gesenkter Stimme an Liliana.
"Du bleibst hier. Ich schau auf den Flur."
"Ich kann mich auch selbst verteidigen."
"Wie? Mit deinem kleinen Küchenmesser da?"
"Alter!", zischte Liliana. Lemon legte den Zeigefinger an die Lippen und griff nach der Türklinke, dann lugte er vorsichtig durch den Türspalt, doch der Flur war Menschenleer.
Zur Sicherheit machte er einen Schritt aus dem Zimmer hinaus, drehte sich um die eigene Achse und analysierte seine Umgebung genau, bis er Liliana signalisierte, dass sie ebenfalls auf den Flur treten konnte.
"Wohl verhört.", sie zuckte die Schultern, aber gleichzeitig spürte sie einen kalten Schauer, der ihr die Nackenhaare aufstellte und eine Hand, die sich über ihren Mund legte. Mit eisernem Griff hielt ihr unsichtbarer Angreifer sie fest. Doch es war nicht, als wüsste Liliana sich nicht zu helfen. Ihr unschuldiges Aussehen hatte schon den ein oder Anderen das Leben gekostet. Ohne einen Laut zu machen, ließ sie sich fallen. Der Griff ihres, fraglos verwirrtem, Angreifers löste sich nur für eine Sekunde, doch das reichte Liliana, um ihre Hüfte zurück gegen ihn zu stoßen, nach seinem Handgelenk zu greifen und ihm den spitzen Ellenbogen direkt ins Gesicht zu schlagen. Während er benommen taumelte, drehte sie sich um und trat ihm mit voller Wucht zwischen die Beine. Der Maskierte sackte wimmernd in sich zusammen und Liliana rieb sich das schmerzende Handgelenk. Gerade als Frau musste man sich zu verteidigen wissen, auch unbewaffnet.
Sie gab dem Häufchen vor sich auf dem Holz noch einen saftigen Tritt direkt gegen die knackende Nase, als hinter ihr ein Klicken ertönte. Schon ein Blick über die Schulter verschlug Liliana von einem auf den anderen Moment die Sprache und ihr siegessicheres Gefühl; Lemon starrte sie an, mit einem Hauch von Panik auf den steifen Zügen, einem Lauf direkt an der Schläfe und um die zwanzig weitere bullige Bewaffnete mit Strumpfmasken hinter ihm und durch den kompletten Flur bis zum Ausgang verteilt. Liliana schluckte unweigerlich. Ihre Hände schwitzten. Sie machte einen Schritt auf die Kostellation zu, Lemon schüttelte langsam den Kopf, ein Maschinengewehr wurde direkt auf sie gerichtet, "Keine Bewegung, sonst seid ihr Beide tot."
Liliana erkannte den russischen Akzent des Angreifers und biss sich auf die Lippe. Aus irgendeinem Grund war sie sich darüber sicher, wer die Schuld an diesem Überfall trug.
Sie hob die Hände über den Kopf und ließ sie sich von einem der Männer, der sich aus seinen Reihen löste, hinter den Rücken fesseln. Sie und Lemon wurden ins Freie geführt und ihr Blick fiel sogleich auf Tangerines wutverzerrtes Gesicht. Um ihn stand es nicht besser, als um Liliana und Lemon. Sein Gesicht zierte ein Veilchen, seine Nase blutete, er hatte offensichtlich gekämpft doch nun malmte er unter Blut und Dreck in Niederlage mit dem Kiefer.
"Aufstehen.", wurde Tangerine angewiesen und unsanft vom staubigen Boden gerissen. Während die Drei zum Ausgang des Hoffes geschubst wurden, warf Liliana einen letzten Blick zum Haus, aus dem soeben Ms. Mariko in die Morgendämmerung trat. Liliana spürte die Wut nur einen kurzen Moment in sich aufkochen, da hatte sie sich schon los gerissen und stampfte der kleinen Frau entgegen. Sie war nicht sicher, was sie vorhatte ihr mit gefesselten Händen anzutun, doch in diesem Moment übermannte sie der plötzliche Zorn.
"Liliana!", rief jemand hinter ihr. Was hatte sie auch erwartet? Den Schlag gegen den Hinterkopf, aus welchem Grund auch immer, nicht. Sie spürte sich zu Boden gehen, bevor sie überhaupt Zeit hatte, ihren Gefühlsausbruch zu bereuen. Sie hatte sich ja sowieso gewünscht noch weiter schlafen zu können.
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Kill Me Pretty [Bullet Train]
ActionSehe ich nicht hübsch aus mit dieser Haut aus Porzellan und Augen aus Glas? Dein kleines Püppchen. Deine Worte sind wie Zucker, Aber Verwesung riecht auch süß.