4 - Alte Bilder

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Summer 78"

Carmelina Salvatore

Es war früher Morgen. Die Sonne ging hinter den Häusern der Speicherstadt gerade erst auf und ich betrachtete mit einem vermutlich ziemlich schläfrigen Blick die Zimmerdecke aus Beton. Manchmal wunderte ich mich, was sich wohl noch über meiner Wohnung, dem alten Speicherboden befand, schließlich war scheinbar irgendeine Art von Dachboden darüber. Wie ich an diesen herankommen sollte, wusste ich aber auch nicht. Außerdem befragte ich mich im nächsten Momenten selbst, was überhaupt dort sein würde. Sicherlich nur altes Zeug von damals, welches meine Eltern dort gelagert hatten. Sie hatten mir den Speicherboden vor ihrem Tod einfach überlassen, hatten nichts weggeräumt oder umsortiert. Und trotzdem hatte ich die Angst vor dem Gefühl, das ich sogar schon bekam, wenn ich bloß nur ein altes Bild sah. Ich fühlte mich, als würde ich eine vollkommen fremde Familie ansehen, die ich nie kannte und nie kennengelernt hatte, von der ich irgendwie getrennt war und ein klares Detachement bestand. Dann sah ich Bilder wie aus einem Film. Es half mir kaum dabei, meine verlorenen, mir entfallenen Erinnerungen an meine Kindheit wiederherzustellen. Eigentlich bewirkte es sogar eher das Gegenteil.
Eine halbe Stunde später, es war gerade einmal acht Uhr morgens und ich hatte schon eine Tasse Kaffee getrunken, hockte ich auf dem engen Dachboden. Immerhin hatte ich nur Angst vor sozialen Interaktionen, Angst vor dem Versagen, Angst vor lauten Geräuschen und keine Klaustrophobie. Die wäre in dieser Situation nämlich eher ruinös - zumindest für meine Psyche und meine Konzentrationsfähigkeit.
Tatsächlich war der kleine Dachboden des alten Speicherbodens vollgestellt mit alten Dingen von meinen Eltern. Ich wusste gar nicht, dass sie so viele der Kartons hier gelassen hatten, schließlich waren sie beide vor jeweils fünf und zwei Jahren in Dänemark im Altenheim gestorben. Wahrscheinlich war das an alten Bildern und Objekten, die sich einst in unseren Wohnungen und Häusern befanden, was hier war einfach nur herrenloser Rest. Vor etwas mehr als fünf Jahren, als meine beiden Eltern ins Altenheim kamen, war es zu viel, um es einfach mitzunehmen und so, wie ich meine Schwester kannte, wollte sie die Fotos und Antiquitäten nicht haben.
Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte oder eher, ob ich überhaupt anfangen sollte, die Sachen durchzuschauen. Schließlich hatte ich irgendwo eine ziemliche Angst davor, mir die alten Fotos anschauen zu müssen - alle meine Erinnerungen vor Beginn des 13. Lebensjahres waren mehr oder weniger weg und bestanden nur zu Teilen. Es waren hauptsächlich negative Dinge, die mir irgendwann mal erzählt wurden und die seit jeher Motive in meinen Albträumen waren. War das alles wirklich mal passiert?
Schließlich nahm ich mir einfach einen der vier Kartons und öffnete ihn. Ich musste husten, weil dabei so viel Staub aufgewirbelt wurde. In dem Karton befanden sich mehrere Bücher, wahrscheinlich eher Fotoalben und ich atmete tief durch, bevor ich mir eines davon nahm.
Sommer 1978
Ich war zweieinhalb Jahre alt und wir lebten zu der Zeit entweder in Hamburg oder schon in Arenzano - ich konnte mich gar nicht erinnern. Ein paar kleine Stücke an Erinnerungen kamen manchmal auf, aber diese beschränkten sich alle auf die Zeit ab meinem zehnten Lebensjahr und häufig fragte ich mich, ob etwas in meinem Kopf die Zeit in Arenzano einfach verdrängte. War ich womöglich traumatisiert von den Dingen, die dort passiert waren? Oder war ich allgemein irgendwie traumatisiert von meiner Kindheit? Ich hatte schon oft darüber nachgedacht, aber nun fragte ich mich es wirklich aktiv. In Italien war es häufig nicht leicht, vor allem damals in den 1980er Jahren nicht und meine Eltern hatten vor allem, als wir dort lebten, nicht viel. Sie stritten oft. Aber das führte doch noch nicht zu einem Trauma. Außerdem lebte meine große Schwester Cosima ganz normal, sie konnte sich an ihre gesamte Kindheit erinnern, wusste auch von den tragischen Dingen, die vor allem in Italien passiert waren und konnte diese einfach normal erzählen, runterrattern, als wäre dabei nichts. Als unsere Eltern noch lebten, erschrak es mich immer, wie getrost sie einfach davon sprechen konnte. Unsere Eltern, die beide an Demenz litten, nahmen die Worte von Cosima wahrscheinlich einfach nur wahr und ich saß dort neben den Betten und versuchte, die aufkommende Panik, die sich beinahe in eine Art von lebendiger Erinnerung verwandelte, zu unterdrücken.
Ich schlug die erste Seite des staubigen Fotoalbums auf. Das Bild, welches als allererstes auftauchte, war eines meiner gesamten Familie vor unserem kleinen Haus in Arenzano. Ich war dort erst zweieinhalb Jahre alt, meine Mutter hielt mich in ihren Armen, während meine ältere Schwester, die damals schon fünf Jahre alt war, zwischen unseren Eltern stand. An das Bild konnte ich mich nicht erinnern, weder an die Aufnahme, noch an die generelle Existenz. Zugegeben, ich war sehr jung. Mit zweieinhalb Jahren dachte man noch nicht viel nach und die aktive Erinnerung setzte auch erst um das sechste Lebensjahr herum ein. Das Problem bei mir bestand jedoch darin, dass ich mich erst ab meinem dreizehnten Geburtstag an alles erinnern konnte. Die weit zurückliegenden Dinge ganz früher in Hamburg und danach in Italien waren als lebendige Erinnerungen nahezu vollständig aus meinem Gehirn gelöscht oder existierten nur in der Form von Bildern wie diesen. Trotzdem fühlte sich das Betrachten des alten Fotoalbums an, als gehöre es zu einer Familie, die ich nicht kannte, mit der ich mich noch nie auseinandergesetzt hatte. Das kleine Ich, welches auf den Bildern auf den Armen der Eltern war, im Garten umherlief und am Strand gemeinsam mit seiner Schwester Sandburgen baute, wirkte wie ein vollkommen fremdes Kind. Es war nicht Carmelina Salvatore auf diesen Bildern - zumindest fühlte es sich für mich nicht so an.
Ich hatte das Fotoalbum fast vollständig durchgeblättert. Viele Bilder, an deren Existenz ich mich nicht einmal erinnern konnte. Dafür rekonstruierte sich in meinem Kopf langsam aber sicher unser Haus in Arenzano. Es war alt, schon etwas heruntergekommen. Soweit ich wusste, konnten sich meine Eltern nicht viel leisten, mussten, wie ich nun als Künstlerin ohne Stipendium, jeden Cent umdrehen.
Innerlich machte ich einen Rundgang durch die Zimmer. Wenn man das Haus betrat, kam man direkt in einen riesigen Raum, der Küche, Esszimmer und Wohnzimmer gleichzeitig war. Einen Fernseher hatten wir erst ab 1984 und wenn ich eines wusste, dann war es, dass meine Eltern lange auf diesen gespart hatten. Hinter diesem Raum mit den Fliesen als Fußboden folgte das Schlafzimmer meiner Eltern - sie hatten einen winzigen Raum, nur ein kleines Fenster und fünf Sechstel des Zimmers bestanden aus Bett.
Zwischen Elternschlafzimmer und der unheimlichen Kellertreppe war eine Art Leiter, die hinauf in zwei Räume mit einer dünnen Wand dazwischen führte. Das waren die Zimmer von meiner älteren Schwester und mir. Wir beide hatten nur ein Bett und einen kleinen Schrank mit einer Lampe. Mehr hatten wir nicht. Unser Badezimmer, welches nur aus einer Toilette, einem Waschbecken und einer notdürftig zusammengebastelten Dusche bestand, war außerhalb des Hauses, neben der kleinen Terrasse im Garten. Eigentlich erinnerte ich mich kaum an etwas - aber dass es im Dunkeln verdammt gruselig war, dorthin zu gehen, das wusste ich noch.

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