15.3 - Nicht alleine

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Una Mattina

Sara Winter

Ich rannte, während alles um mich herum verschwamm und ich wusste nicht einmal, warum ich solch eine Angst hatte. Er hatte mir nie etwas getan, es nur angedeutet. Wenn du bessere Noten haben willst, Sara, dann können wir gerne etwas dafür tun. Das und ein paar ähnliche Dinge sagte er damals, aber er hatte mir nie etwas getan. Und trotzdem hatte ich so eine schlimme Panik, die mich in diesem Augenblick komplett in den Abgrund zu treiben schien. Meine Umgebung verschwamm, die Luft war kalt, aber vibrierte und alles war zu laut, zu bunt, zu viel. Es waren Menschen, es waren Autos, Lichter und ich konnte nicht mehr rennen, dabei war ich nicht einmal hundert Meter von der Galerie entfernt. Und es war nicht einmal die Furcht davor, Herr Peters könnte mir nachgelaufen sein und mir nun doch etwas antun. Vielmehr war es das Allgemeine. Die vielen Menschen, die Enge in dem kleinen Raum der Galerie. Es wunderte mich sehr, dass Carmelina nicht schon nach wenigen Minuten panisch das Haus verlassen hatte.
Auf einer Holzbank am Rand des Rathausplatzes setzte ich mich atemlos hin. Meine Beine zitterten und ich musste meine Gedanken erst einmal ordnen. Es war kaum zehn Minuten her, dass ich auf einen der widerlichsten Menschen, mit denen ich jemals Bekanntschaft gemacht hatte getroffen war. Und er hatte mich eine schöne junge Dame genannt, mich dabei von Kopf bis Fuß gemustert und mit einem Lächeln seine Hand auf meinen Arm gelegt, während er meinte, dass aus mir ja doch noch eine attraktive junge Frau geworden ist. Es war nicht nur unangenehm, es war so vieles mehr und in dem Augenblick, in dem ich daran denken musste, was mir alles über ihn erzählt wurde, wurde mir schlecht und ich verließ die Galerie. Ob Carmelina das mitbekommen hatte oder nicht, wusste ich gar nicht. In meinem Kopf waren nur noch die Gerüchte und die wahren Geschichten. Und die Dinge, die er zu mir gesagt hatte - sowohl in der Vergangenheit, als auch konkret an diesem Abend.

Der Wind traf plötzlich heftig auf mein Gesicht und ich begann, noch mehr zu zittern. Unter meinen dunkelbraunen Hosenanzug keine Strumpfhose zu ziehen und nur den dunkelblauen Stoffmantel anstatt meiner hellgrauen Winterjacke zu nehmen, waren eindeutige Fehlentscheidungen, denn nun half mir nichts, um mich warmzuhalten. Und erst einmal wollte ich nicht zurück in die Galerie. Nicht, solange dort noch so viele Menschen waren und vor allem nicht, so lange Herr Peters sich dort aufhielt und sicherlich so einige junge Frauen, die, ebenso wie ich, über dreißig Jahre jünger sein durften, als er, um den Finger wickelte und auf eine seltsame Art und Weise anmachte. Eine Vernissage war sowieso der vollkommen falsche Ort dafür, ebenso wie eine Schule.
Eigentlich wollte ich mein Handy aus der Tasche meines Mantels holen und Carmelina schreiben, dass ich mich am Rande des Rathausplatzes hingesetzt hatte und sie sich keine Sorgen machen musste, aber meine Hände zitterten stark und froren gleichzeitig. Noch dazu war ich mir sicher, dass Carmelina ihr Handy ausgeschaltet hatte oder es zumindest nicht benutzte. Schließlich war sie, was für mich eine große Überraschung war, in den Minuten bevor ich weglief, in einem Gespräch mit ein paar anderen Künstlern. Dabei dachte sie wohl kaum an ihr Handy und erst recht nicht daran, dass ich ihr geschrieben haben könnte. Schließlich war ich mir nicht einmal sicher, ob sie mein Verschwinden überhaupt bemerkt hatte. Ich seufzte also tief und stützte meinen Kopf auf meine Hände, während ich meine Tränen unterdrückte.

Plötzlich und so, als hätte irgendetwas oder irgendwer meine Gedanken gehört, klingelte mein Handy und ich erschrak mich ein wenig, schließlich hatte ich mich schon fast an die Stille meiner Gedanken und die Geräusche der Stadt im Hintergrund gewöhnt. Meine Hände zitterten viel zu stark, als ich versuchte, nach meinem Handy zu greifen und ich hatte ein wenig die Sorge, dass ich es fallen lassen würde, weil das Zittern viel zu stark war. Und schon im nächsten Augenblick, in dem ich es hinbekam, mein Handy fest mit meinen Händen zu umklammern, kam der nächste Schock. Es war Carmelina, die mich anrief. Sie musste mein Verschwinden wohl bemerkt haben. Ich zögerte einen Moment, bevor ich den Anruf entgegennahm, schließlich waren meine Gedanken viel zu durcheinander, ich an sich viel zu aufgekratzt und emotional.
"Hey", sagte ich mit zittriger Stimme und musste mich zusammenreißen, nicht zu heulen. Nun, wo ich wusste, dass ich mit Carmelina redete.
-"Sara, wo bist du? Ist alles in Ordnung?" Carmelinas Stimme klang ziemlich besorgt, eher ungewöhnlich für sie und im Hintergrund konnte ich das Gemurmel von ein paar Menschen hören, doch ich versuchte es auszublenden. Ich ließ meinen Blick über den erstaunlich leeren Rathausplatz schweifen. Währenddessen stiegen mir salzige Tränen in die Augen. Ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen, ich wusste einfach nicht mehr, wie das ging.
"Nein, nicht so wirklich... Es tut mir leid, Carmelina", wimmerte ich und auf der anderen Seite hörte ich nur ein Seufzen, daraufhin Stille, als erwartete sie, dass ich mich erklären würde. "I- Ich bin weggelaufen... Ich konnte nicht mehr dort bleiben... Er... Er hat mich angesprochen... Und mich angefasst... Es war einfach so ein seltsames, ekelhaftes Gefühl...", stotterte ich, während immer noch Tränen aus meinen Augen flossen. Sie wusste nicht einmal von wem ich sprach, aber trotzdem wollte ich seinen Namen nicht aussprechen und als ich gerade darüber nachdachte, ihn zu sagen, um Carmelina über die Geschehnisse früher aufzuklären, überkam mich ein Gefühl der Übelkeit. So schlimm war es bis jetzt noch nie.

-"Okay, beruhige dich, Sara...", meinte sie, ihre Stimme klang dabei ruhig und langsam. Ich atmete zwischendurch tief ein und aus, aber viel brachte es nicht, denn die Tränen flossen nach wie vor und immer wieder schluchzte ich, obwohl ich eigentlich bewusst tiefe Atemzüge machte.
-"Wo bist du? Ich komme zu dir", sagte Carmelina daraufhin etwas schneller und wartete ab. Ich musste mich erst ein wenig sammeln, es war, als steckten mir die Worte im Hals fest. Dabei war es doch ganz einfach. Ich musste nur sagen, dass ich am Rathausplatz war - so schwer war es nicht. Das bekam jedes Kind hin, aber ich war in diesem Moment selbst dazu zu unfähig.
"I-Ich... Ich... Ich... Ich bin auf diesem... Auf diesem Platz... Auf dem Rathausplatz". Ich klang so unfassbar dumm. Stotternd und ohne Struktur. Es war fast schon erbärmlich. Aber ich war durcheinander und es war Mitte Dezember, eisig kalt. Damit rechtfertigte ich meine Gedanken, mein Verhalten und meine Ausdrucksweise.
-"Okay... Denkst du, du schaffst es, zurück zur Galerie zu gehen und dann fahre ich dich gleich nach Hause? Oder soll ich zu dir kommen? Das könnte dann allerdings ein paar Minuten dauern... Ich... Ich war gerade eigentlich in einem Gespräch mit ein paar alten Bekannten... Aber ich werde kommen, Sara, das verspreche ich", meinte sie. Ich saß nur still da, während mir die Tränen über das Gesicht liefen. Meine Finger fühlten sich zunehmend kalt an, doch Carmelinas ruhige Stimme löste in mir irgendwie eine innere Wärme aus. Ein seltsames, aber auf eine Art und weise der Beruhigung schönes Gefühl.

Ich starrte abwechselnd geradeaus und dann manchmal auf meine zitternden Finger, die ich verzweifelt versuchte, zu wärmen. Mir war so unfassbar kalt. Dabei war es nicht einmal windig oder verschneit. Sondern einfach nur kalt. Wie für den Abend eines 17. Dezember nun einmal typisch.
-"Sara?", hörte ich plötzlich eine Stimme meinen Namen sagen. Sofort drehte ich mich in die Richtung, aus welcher die Worte gekommen waren. Ich sah, dass Carmelina in einem schnellen Tempo auf mich zuging. Mühsam, aber mit Erfolg stand ich von der Bank auf und ging ihr entgegen. Dabei zitterte ich am ganzen Körper und Carmelina schien dies sofort zu bemerken, schließlich sah sie mich sehr besorgt an und meinte dann:
-"Heyyy~... Du zitterst ja total...". Dabei legte sie für eine Sekunde ganz vorsichtig ihre linke Hand auf meine rechte Schulter, ließ aber sofort wieder los. Ich sah auch den Boden und dann wieder in Carmelinas eisblaue Augen.
-"Wir gehen jetzt zu meinem Auto und wärmen uns auf... Und dann erzählst du mir bitte, was los war, okay?", meinte sie dann ein paar Sekunden später. Ich musste schlucken, obwohl ihre Stimme keinesfalls vorwurfsvoll, sondern eher sanft und besorgt klang. Aber ich wusste nicht, ob ich an diesem Abend noch die Kraft haben würde, ihr von der gesamten Geschichte mit Herrn Peters zu erzählen.
Ich stand einfach still und regungslos dort und sah Carmelina in die Augen. Um mich herum verschwand alles sonstige. Plötzlich war nur noch die schwarzhaarige Frau in dem flauschigen schwarzen Mantel dort. Und ich starrte sie an. Ab einem bestimmten Moment wohl etwas zu lange, denn während sich in meinen Augen Tränen bildeten, wendete sie ihren Blick ab. Und dann machten wir uns wortlos auf den Weg zu ihrem Auto. Aber wenigstens war mir nicht mehr kalt, denn sie war bei mir. Und die unerwartete Geste dessen, dass sie fast den ganzen Weg vom Rathausplatz zu der Straße neben der Galerie über ihre linke Hand auf meinem Rücken platziert hatte, um mich zu stützen, gab mir noch mehr Sicherheit.

SalvatoreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt