15 - Verabredung

49 6 8
                                    

Natural Mystic

Carmelina Salvatore

Etwas Zeit verging. Unter der Woche arbeitete ich wieder ein paar Stunden an der Universität und half in der Kunstfachschaft als Assistentin. Wenigstens das konnte ich tun und wenigstens in diesen Momenten fühlte ich mich von der Anwesenheit anderer und vor allem fremder Menschen nicht vollkommen überfordert. Mittlerweile war Mittwochabend - ich saß auf dem Fußboden in meinem kleinen Atelier, welches nebenbei auch als Büro und Wohnzimmer mit Sofa herhalten musste und arbeitete weiter an einem etwas größeren Bild, welches ich schon seit meiner letzten Ausstellung Anfang November als Projekt hatte. Dieses Mal war es ein etwas anderes Motiv, als sonst. Meist konzentrierte ich mich auf die realistische Darstellung imaginierter Landschaften. Ich ließ mich viel von Claude Monets Stil inspirieren. Schon immer. Meine Themen bei der Landschaftsmalerei waren meistens eher dunklere. Ich bevorzugte das Malen von Gewittern, Stürmen, Situationen in der Nacht. Dabei empfand ich die Dunkelheit schon immer als etwas unheimlich. Keinesfalls als beruhigend, wie manche anderen Menschen.
Aber bei diesem Projekt lag mein Fokus auf etwas anderem. Es war immer noch eine Landschaft, eine, welche ich mir ebenfalls nur ausgedacht hatte. Aber ich versuchte, sie gezielt so weit zu abstrahieren, dass der Betrachter des Werkes am Ende nur noch eine wirkliche Landschaft erahnen oder gar nur vermuten könnte. Und vielleicht war das Malen dieses Bildes auch eine Art Abstraktion für mich. Immerhin hatte ich mir überlegt, den Strand von Arenzano so zu malen, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Ohne Referenzbilder aus der heutigen Zeit und ohne massenhaftes Graben in alten Bildern oder Filmaufnahmen. Es kam alles nur aus meinem Kopf.
Nebenbei hörte ich Musik. Alles auf meinem alten Plattenspieler, den ich ungefähr seit meinem zwanzigsten Lebensjahr besaß. Ich konnte mich noch ganz genau erinnern, dass ich ihn mir von meinem ersten Gehalt gekauft hatte, als ich während meines Studiums nebenbei in einer kleinen Bibliothek am Stadtrand arbeitete. Ich hörte alle auf dieser Welt möglichen und von mir trotzdem als angenehm empfundenen Lieder durcheinander. Aber am meisten traten dabei Reggae, klassische Musik und italienische Musik aus den 70er und 80er Jahren auf. Und ich verlor mich darin, während ich an dem großen Bild arbeitete.

Erst, als um kurz nach 20 Uhr das Handy, welches ich unsanft auf das Sofa gelegt hatte, vibrierte, war ich wieder in der Realität zurück. Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, wer in aller Welt um diese Uhrzeit etwas von mir, Carmelina Salvatore, wollte. Also stand ich auf, und ging auf das Sofa zu. Von dem schnellen Aufstehen wurde mir, wie meistens, wenn ich, wie an diesem Tag, wenig gegessen und getrunken hatte, ein wenig schwindelig. Aber meine Gedanken daran, wer mir wohl geschrieben haben könntet überwogen, als setzte ich mich auf das Sofa, zog meine Beine, die in einer bunten Hose mit abstrakten Mustern steckten, eng an meinen Körper und entsperrte dann mein Handy.
Sofort schlug mein Herz ein wenig schneller - eigentlich machte mir das immer Angst, weil ich an Panikattacken und meine von Zeit zu Zeit auftretende Tachykardie denken musste. Aber nun, wo ich mit einem Lächeln im Gesicht betrachtete, dass Sara mir geschrieben hatte, machte mir auch das schnelle Klopfen in meinem Oberkörper nichts mehr aus.
»Hey, ich wollte nur fragen, wie es dir geht
und ob wir uns in den nächsten Tagen vielleicht
mal wieder treffen wollen«
- 19:49 Uhr

Ich sah einfach nur auf den Bildschirm meines älteren Handys. Dieses Lächeln verschwand gar nicht mehr aus meinem Gesicht und ich wusste nicht einmal, warum. Wahrscheinlich freute ich mich einfach nur zu sehr darüber, dass sich überhaupt irgendwer für mich interessierte und sich dann auch noch mit mir treffen wollte.

»Hallo Sara,
Mir geht es wieder ein wenig besser...
Danke der Nachfrage...
Gerne können wir uns in den nächsten
Tagen treffen, wobei ich natürlich meine
Arbeitszeiten bedenken muss«
- 20:27 Uhr

Das schrieb ich ihr zurück. Ich hoffte einfach, dass sie meine Worte nicht überinterpretieren oder missverstehen würde, schließlich würde ich mich über jedes einzelne Treffen mit Sara freuen.
Sie war zu diesem Zeitpunkt nicht online, weswegen ich mein Handy wieder zur Seite legte und mich meinem fast fertiggestellten Kunstwerk widmete. Dadurch, dass ich meinen Plattenspieler ausgeschaltet hatte, als ich das Vibrieren meines Handys wahrnahm, hörte ich nun nur noch das sanfte Prasseln des Regens auf den Fensterscheiben. Diese Geräusche waren endlos beruhigend. Währenddessen setzte ich Pinselstrich für Pinselstrich auf die Leinwand. Das Bild war groß und fast fertig - den Strand von Arenzano konnte man kaum noch erkennen. Es wirkte eher wie ein chaotisches Etwas aus verschiedenen kühlen Farbtönen. Vielleicht konnte man hineininterpretieren, dass es sich um ein Meer, eine Stadt oder ein Feld mit blauen Blumen handeln könnte, aber ich war mir nicht sicher. Ich sah darin nichts und gleichzeitig so viel. Im Strand von Arenzano sah ich immerhin meine Kindheit und die schlimmste Phase dieser.
Mit meinen Gedanken konnte ich schon nach zehn Minuten nicht mehr allzu gut alleine sein, weswegen ich mich umdrehte und eine andere Platte in den Plattenspieler einlegte. Natural Mystic.
Mir der ruhigen und dennoch durchdringenden Musik im Hintergrund ging es mir direkt etwas besser. Das Acrylgemälde vor mir war nicht mehr nur ein Haufen von Traumata, sondern in erster Linie einfach nur ein Bild. Es war ein abstrahiertes Bild und es musste auch nicht zwingend einen Sinn ergeben. Schließlich musste Kunst nicht immer unbedingt einen Sinn haben, nicht zwingend die Frage nach den Warum aufwerfen. Kunst konnte auch einfach existieren - ohne Interpretationen. Plötzlich riss mich wieder das Geräusch meines Handys aus den Gedanken. Sara hatte mir geschrieben.

»Es ist schön, zu hören, dass du dich
wieder ein bisschen besser fühlst...
Okay - ich habe diese Woche meine letzten
drei Vorlesungen und arbeite dann auch
noch an meiner Bachelorarbeit...
Aber am Donnerstag oder Freitag hätte ich Zeit...
Ich freue mich schon, dich wiederzusehen :)«
- 20:43 Uhr

Das hatte Sara mir geschrieben. Mein Herz klopfte wieder ein wenig und ich konnte wieder einmal nicht genau definieren, warum. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich mich darauf freute, Sara wiederzusehen, mit ihr zu sprechen und generell mit dieser interessanten, aufmerksamen jungen Frau meine Zeit zu verbringen. Und dann fiel mir etwas ein, was ich am vergangenen Donnerstag mitbekommen hatte, als ich als Assistentin in der Universität arbeitete - am kommenden Donnerstag, dem 17. Dezember, wird eine neue Ausstellung in einer kleinen Galerie im Süden der Stadt eröffnet. Mir war zwar klar, dass Sara Physik studierte und generell nicht besonders stark an Kunst interessiert war, aber ich wusste, dass viele Gemälde und andere Werke sie faszinierten, trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass sie keine Kentnisse über Stile und Techniken der Kunst hatte.
Sofort schrieb ich ihr zurück, dass ich am Donnerstagabend Zeit hatte und nicht nur das. Ich war so direkt, nahezu schon zu direkt und für einen kurzen Moment war ich mir nicht sicher, ob es gut war, dass ich mir anmaßte, Sara direkt zu der Vernissage einzuladen. Nicht, dass sie es falsch interpretieren würde...

SalvatoreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt