12 - Berührungsangst

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Anxiété

Hier mal ein sehr emotionales Kapitel...
Und TW!!! (Gewalt und Traumata)

Carmelina Salvatore

Ich hatte Tränen in den Augen, aber ich wollte keinesfalls, dass Sara diese sieht. Also zwang ich mich dazu, mich zusammenzureißen, als ich begann, zu sprechen.
"Es ist nur...". Meine Stimme zitterte ein wenig und ich traute mich nicht wirklich, Sara anzuschauen. Ich wollte die junge Frau nicht unnötig mit dem belasten worum ich mir Gedanken machte. Ich sah auf den hölzernen Tisch und atmete danach tief durch. Eigentlich hatte ich schon längst verloren - Sara hatte schon längst bemerkt, dass es mir nicht gut ging.
"Es ist nur, ich denke manchmal darüber nach, wie viel Zeit uns noch bleibt, wie lange wir noch hier auf dieser Welt sind und was wir aus unserem Leben machen... Ich frage mich, ob wir das Richtige tun und genug hinterlassen werden, wenn wir einmal nicht mehr sind....", flüsterte ich, meine Stimme wurde dabei zunehmend leiser. Dann verschwamm meine Sicht aufgrund der Tränen und es kostete mich in diesem Augenblick meine ganze wenige Kraft, die ich eigentlich hatte, um diese zurückzuhalten. Ich traute mich immer noch nicht, aufzusehen und der jungen Frau mir gegenüber in ihre grüngrauen Augen zu sehen - eigentlich wollte ich in diesem Moment einfach nur alleine sein. Ich wollte, dass Sara geht und mich mit dem, was ich fühlte, alleine lässt. Aber gleichzeitig wollte ich nicht so einsam und alleine sein, wie ich es sonst immer war. Ich war immerhin nicht nur in meinen neutralen, beinahe schon fröhlichen Augenblicken alleine, sondern auch, wenn mich die Sentimentalität auf beinahe theatralisch, übertriebene Art und Weise über mich zusammenbrach und ich stundenlang heulend in irgendeiner Ecke saß. Aber so sollte mich trotzdem niemand sehen - vor allem Sara nicht, schließlich wäre ihr Bild von mir noch mehr verzogen und gestört, als es nach dieser Nacht und vor allem diesem Morgen ohnehin schon sicherlich war.
-"Carmelina?", sprach Sara mich vorsichtig an, als sie zu bemerken schien, dass ich nur auf den Tisch starrte und sich Tränen in meinen Augen sammelten. "Was macht dich so traurig, hm?", fragte sie sanft. Damit war es vorbei. Noch niemals, niemals in meinem gesamten Leben hatte mich jemand das gefragt - noch nie. Niemals. Und ich dachte an Aussagen und Fragen, die stattdessen kamen. Kannst du aufhören zu heulen? Ich halte das nicht mehr aus, schrie meine Mutter in meinen Gedanken. Wenn du jetzt noch einen Ton sagst, dann ist hier was los!, drohte mein Vater mir mit erhobener Hand, während ich als kleines Kind in einer Ecke unseres Wohnzimmers in Arenzano saß. Reißen Sie sich zusammen, Frau Salvatore!, befahl mir mein ehemaliger Arbeitgeber, als ich nach dem Todestag meiner Mutter weinend im Pausenraum zusammengebrochen war. Ich durfte so nicht sein und niemand durfte mich so sehen.
"Geh' weg, Sara! Bitte hau' einfach ab!". Meine Stimme zitterte stark, als ich lauter wurde und man konnte meine Tränen hören. Verdammt, ich habe verloren. Und ich dachte und hoffte auch irgendwie, dass Sara wortlos aufstehen, ihre Sachen zusammensammeln und allerhöchstens mit einem neutralen Auf Wiedersehen gehen würde, aber so funktionierten Menschen nicht. Schließlich stand sie von ihrem Stuhl auf und ging einmal um den Tisch herum auf mich zu, während ich meinen Kopf langsam anhob.
-"Hey... Was ist denn los?", drang ihre sanfte Stimme zu mir, aber ich war gefangen. Ich nahm alles aus der Ecke eines Raumes wahr, in die ich mich verkrochen hatte. Plötzlich war alles wieder so real, so lebhaft. Wehe, du heulst jetzt! Kinder, die sich nicht benehmen, muss man zum Benehmen zwingen!, schimpfte mein Vater, als er mit einem seiner Ledergürtel in der Hand vor mir stand, als sich mein vielleicht gerade einmal fünfjähriges Ich sich in einer Ecke des Wohnzimmers versteckt hatte. Und in der Realität schlug ich mit meiner Hand auf den Tisch.
-"Shhh, es ist alles gut", flüsterte Sara und ich sah das erste mal wieder auf, aber nur, um meine schmerzende Hand zu betrachten. Es war einfach viel zu überfordernd für mich, dass Sara so freundlich, liebevoll und sanft war - es war neu für mich, dass jemand meine Trauer und meine Tränen nicht nur wahrnahm, sondern sie auch akzeptierte und auf mich einging. Es war unheimlich und das war schlimm. In den letzten zwanzig Jahren hatte ich nie solch eine Person gehabt.
"Kannst du bitte gehen?", wimmerte ich fast unhörbar und sah danach wieder auf den Tisch. Sara, die etwa einen halben Meter neben mir stand, war still und aus meinen Augen tropften die Tränen auf den leeren Teller aus bunter Keramik und auf den alten Holztisch. Wahrscheinlich kam bei Sara nichts von dem, was ich sagte, an. Ich war viel zu gefangen.
Und plötzlich spürte ich eine warme Hand auf meinem Arm. Sofort zuckte ich zusammen. Unter Strom stand ich von meinem Stuhl auf, welcher in meiner Hast umfiel und ich rannte in die Ecke des Raumes, hinter mein Bett. Meine Augen waren geschlossen, mein Herz raste und stolperte wie wild. Die Hand fühlte sich an, wie seine Hand, die Berührung hatte Ähnlichkeiten mit dem Beginn einer schrecklichen Nacht. Ich rollte mich zu einem winzigen Etwas zusammen und hielt meine Augen krampfhaft geschlossen. Er durfte mich nicht finden. Und ich sagte keinen einzigen Ton. Ich war verloren, absorbiert und meine Tränen flossen weiterhin lautlos, dieses Mal in die Ärmel meines weißen Pullovers, in dem ich meinen Kopf vergraben hatte.
Aber dann bemerkte ich eine sehr präsente Wärme, nicht weit von mir entfernt. "Heyyy Shhhh... Es ist alles gut, Carmelina, ich will dir nichts tun...", flüsterte Sara und ganz langsam hob ich meinen Kopf. Nun würde er dort stehen und ich würde hilflos vor ihm auf dem Boden sitzen, eingeengt und ohne die Möglichkeit, zu flüchten. Ich schüttelte energisch meinen Kopf, bekam davon zwar Kopfschmerzen, aber verlor den Gedanken an ihn.
Ganz langsam sah ich auf und sah, wie Sara etwa einen Meter von mir entfernt vor mir auf dem Boden hockte und mich sehr besorgt ansah. Ihre grünen Augen waren in diesem Moment ein Punkt, der mir auch nur irgendwie Ruhe gab - meine Augen taten weh vom vielen und vor allem heftigen Weinen. Zudem hatte sich meine Atmung immer noch nicht beruhigt und mein Herz schlug ziemlich schnell, aber das kannte ich schon sehr gut.
-"Es tut mir sehr leid... Also, dass ich dich angefasst habe und du... Du dann so reagiert hast", meinte Sara mit sehr leiser und unsicherer Stimme und ich schüttelte den Kopf, während weitere Tränen in meine Augen stiegen. "Es sollte eher mir leidtun...", flüsterte ich und sah Sara in die Augen. "Du bist keine Bedrohung... Du bist eine so wundervolle, sanfte Person... Aber damit kann ich auch nicht umgehen", sagte ich und bevor ich Sara wieder ansehen geschweige denn sie etwas sagen konnte, vergrub ich wieder meinen Kopf in meinen Händen und weinte weiter.

SalvatoreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt