6 - Erkannt

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Such A Shame

Carmelina Salvatore:

Ich sah mich um, war zugegebenermaßen etwas verloren in dem Raum. Wirklich kennen tat ich nur Frau Zimmer, Lena Zimmer, die Kunstprofessorin, mit der ich auch schon ein wenig geredet hatte. Ich kannte sie von früher, aus der Zeit, in der ich in meinen zwanzigern in Hamburg studierte. Sie war ungefähr so alt wie ich, wir gingen zur selben Universität. Aber der Rest der Menschen in diesem Raum war mir nahezu bis vollkommen unbekannt - allerhöchstens kannte man ein paar Menschen vom Sehen. Und die einzige Person, die ich schon kannte und die mir direkt beim Betreten des Raumes aufgefallen war, war die junge Frau, die auf dem Tisch saß und nachdenklich in der Gegend umher sah. Es war die junge Frau, der ich vor etwa zwei Wochen schon bei der Vernissage begegnet war und die zögerlich versucht hatte, ein Gespräch zu beginnen. Mittlerweile war es mir unangenehm, dass ich in dem Augenblick wirklich gar nicht auf das Reden aus war, was vielleicht auch der Grund dafür gewesen sein dürfte, dass ich sie nun aktiv angesprochen habe, wenn auch ein wenig zu direkt. Immerhin hatte sie nach meiner Frage, ob sie auch mal mit dem Starren fertig sei, erst beschämt nach unten und dann entschuldigend zu mir geschaut. Ich hätte etwas sagen können, wir hätten reden können. Aber ich konnte das nun einmal nicht so gut - die ganze Kommunikation. Aber irgendwie wollte ich noch einmal mit ihr reden, denn sie wirkte nicht gerade desinteressiert an mir. Doch was sie wirklich über mich dachte, wusste ich nicht, weswegen ich dann mit zitternden Händen auf den Boden sah und die schwarze Lederoberfläche meiner Stiefel betrachtete. Es verunsicherte mich auch in meinem Alter, welches seit diesem Tag schon 45 Jahre betrug, ungemein und viel zu sehr, Menschen einfach so anzusprechen.
Ganz kurz hatte ich mich mit Lena Zimmer und ihrem Assistenten Sang Choi unterhalten, wobei ich aufgrund des Fakts, dass mir der junge Asiate vorher noch nicht bekannt war und er mich die ganze Zeit über ansah, ein wenig Angst bekam. Sie kroch mir immer und immer weiter den Rücken hinauf und mein ganzer Körper zitterte, sodass ich mich nach wenigen Minuten schon wieder abwendete und mich in eine Ecke des Raumes verschanzte, in der sich die wenigsten Menschen befanden. Dort setzte ich mich auf einen der an der Wand herumstehenden Stühle. Irgendwie mehr oder weniger bequem schlug ich meine Beine übereinander und beobachtete die ungefähr zwanzig Menschen in dem Raum bei ihrem Austausch über die ausgestellten Kunstwerke der Studenten. Ich hätte mitreden können, wenn meine Angst nicht gewesen wäre. Mehr als die Hälfte der Menschen in dem Raum hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen und ich wusste, dass es nicht besser wurde, wenn ich versuchen würde, mich zu trauen und ein Gespräch zu beginnen. Solche Aktionen waren in der Vergangenheit nie gut ausgegangen und kosteten mich meistens viel zu viel Energie, um es noch einmal wagen zu können. Außerdem war jede Person in dem Raum zu dem Zeitpunkt in ein anderes Gespräch verwickelt, sodass ich sowieso nichts hätte tun können. Der einzige Mensch, der ebenso wie ich eher am Rand saß und das Geschehen beobachtete, war die junge Frau, die ich von der Vernissage vor zwei Wochen kannte und mit der ich an diesem Abend auch schon kurz gesprochen hatte. Vielmehr hatte ich etwas gesagt und sie hatte beschämt nach unten geschaut und sich dann entschuldigt. Und gerade, als ich wieder an sie dachte und mein Blick kurz zu ihr ging, sah sie mich aus ihren hellen, grünbraunen Augen an. Die Strähnen ihres erdbeerblonden, leicht welligen Haares umrahmten ihr Gesicht und ich meinte, für eine Sekunde ein Lächeln auf ihrem Gesicht erkennen zu können. Es wirkte, als hätte sie gemerkt, dass ich sie angesehen hatte. Irgendwie lustig, falls es wirklich so war.
Danach sah ich auf den Boden, betrachtete meine schwarzen Stiefel und meine dunkelgraue Hose, die ich schon seit gefühlten Jahren nicht mehr getragen hatte. Ausnahmsweise zog ich sie an diesem Tag an - eigentlich war schließlich mein Geburtstag und auch, wenn ich nicht feierte, niemand bei mir war und das Altern mittlerweile eher eine Belastung war, wollte ich irgendwie besonders wirken. Zumindest besonderer, als an anderen Tagen, obwohl ich davon ausging, dass mich sowieso niemand wahrnahm. Das tat ohnehin keiner und ich, mit meiner Angst vor den Blicken und Kommentaren anderer Menschen, wusste nicht, ob dies ein Fluch oder ein Segen war.
Plötzlich merkte ich, wie sich jemand neben mich setzte. Ich hasste es, wenn Menschen mir zu nahe kamen, aber das nun war gerade noch in Ordnung. Etwas verwirrt sah ich auf und dann in das Gesicht dieser jungen Frau, die sich scheinbar von dem Tisch in der anderen Ecke des Raumes entfernt hatte und zu mir gekommen war. Sie saß über einen Meter von mir entfernt - das war noch in Ordnung. Alles darunter konnte ich bei mir fremden Menschen einfach nicht akzeptieren.
Ich musterte die junge Frau für einen Moment, obwohl ich dies schon vorher getan hatte, nur fielen mir jetzt aus nächster Nähe noch ein paar mehr Details auf. Ihre Augen waren wirklich grünlich und ziemlich hell, erinnerten mich an eine Wiese im Sonnenschein. Das gesamte Gesicht war leicht gebräunt und sie hatte auf ihrer Nase ein paar Sommersprossen. Irgendwie musste ich kurz lächeln. Ich wusste aus Erzählungen, dass ich, als ich jünger war, auch welche hatte und während alle Erwachsenen immer entzückt von diesen waren und immer kommentieren mussten, wie süß ich damit aussah, hackten die anderen Kinder auf mir herum. Ich konnte mich daran nicht mehr erinnern, schließlich war alles vor dem 13. Lebensjahr aus meinem Kopf verschwunden - vermutlich aus guten Gründen.
-"Warum schauen Sie mich so an?", fragte die Frau mit den grünen Augen und den erdbeerblonden Haaren, die nach oben hin immer dunkler wurden und für einen Moment hatte ich vollkommen vergessen, wie offensichtlich und interessiert ich sie gemustert hatte. Ich räusperte mich - jetzt musste ich mit einer fremden Person sprechen, mit der ich bis jetzt nur kurze, eher unangenehme Wortwechsel hatte.
"Sorry... Irgendwie... Irgendwie erinnern Sie mich an jemanden...", begann ich und sah dann kurz auf den Boden, schließlich hatte ich eben mehr oder weniger gelogen, dabei eine plausible Antwort auf ihre direkte Frage gesucht. Ich seufzte einmal, bevor ich meinen Blick wieder anhob und ehrlich fragte: "Können wir das mit dem Siezen vielleicht bleiben lassen? Irgendwie ist das doch viel zu förmlich...". Mein Gegenüber lächelte mich zu meiner Überraschung freundlich an und nickte dann. Ich bemerkte, wie auch sie ihren Blick nicht von mir lösen konnte. War ich wirklich so ansehnlich? So interessant? Ich war alt, das sah man mir an und die Zeit, in der ich vor einem Spiegel stand und mir selbst sagte, wie gut und jugendlich ich aussah, war schon seit über zehn Jahren vorbei.
-"Okay... Ich bin Sara", stellte sie sich vor. Ich bemerkte, wie sie mir zuerst die Hand geben wollte, dann aber davon absah und es einfach so stehen ließ, wie es war.
"Ich bin Carmelina", sagte ich und sah in die Augen der jungen Frau. Sara also. Der Name passte irgendwie wirklich gut zu ihr, obwohl so einige junge Frauen so hießen. Ich lächelte sie an und überraschenderweise lächelte sie zurück.
"Studierst du auch hier?", fragte ich sie, einfach, um ein Gespräch zu beginnen. Ich war überrascht von mir selbst - ich begann ein Gespräch.
-"Hier nicht... Ich bin auch keine Kunststudentin...", meinte Sara, ihre Stimme war monoton und als ich sie ansah, senkte sie ihren Blick. Irgendwie sah sie ein wenig traurig aus.
-"Ich studiere Astronomie... Seit ein bisschen mehr als zwei Jahren...", erzählte sie. Eigentlich wirkte sie gar nicht wie eine Wissenschaftlerin. Auch, wenn ich mich erst seit kaum einer Minute mit Sara unterhielt, wirkte sie auf mich eher kreativ und vor allem sehr aufmerksam und sensibel, zumindest schien es so, als würde sie vieles bemerken, vieles spüren. Oder nahm das nur mein eilfertiges Unterbewusstsein so wahr?

SalvatoreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt