7 - Sie

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Saigon

Sara Winter

-"Ich bin Carmelina". Als sie sich vorstellte und mir dabei mit ihren eisblauen Augen in die Seele starrte, kam ein interessantes Gefühl in meinem Körper auf. Vielleicht lag es primär daran, dass es sich wirklich anfühlte, als würde ihr Blick mich komplett durchleuchten und jeden einzelnen Charakterzug, jeden Gedanken, jede einzelne Erinnerung und alles Sonstige sofort erkennen. Es war einerseits ein wenig unheimlich, aber noch viel mehr war es faszinierend und irgendwie fühlte ich mich gesehen, was auch irgendwie Sinn ergab.
-"Studierst du auch hier?", fragte sie, als ich schon fast erwartet hatte, dass das Gespräch nicht weiterlaufen würde.
"Hier nicht... Ich bin auch keine Kunststudentin...", erklärte ich, obwohl ich wusste, dass ich auch keinesfalls so aussah, als wäre ich eine. Generell wirkte ich bestimmt viel zu ernst und viel zu wissenschaftlich, um als eine von den verrückten Künstlern durchzugehen. Carmelina, die selbst Künstlerin war und sich schon sehr lange mit solchen Menschen beschäftigte, sah sicherlich sofort, dass ich nicht aus ihrem Fachgebiet kam.
"Ich studiere Astronomie... Seit ein bisschen mehr als zwei Jahren...", sagte ich, um überhaupt irgendetwas zu sagen und Carmelina sah mich an. In ihren Augen lag ein interessanter Hauch von Bewunderung, fragend hob sie ihre linke Augenbraue an.
-"Eine Naturwissenschaftlerin also...", stellte sie fest und es schien, als würde sie für eine Sekunde ganz leicht lächeln. Ich musste wieder daran denken, dass ich vermutete, ihre ihr äußerlich anzusehenden Emotionen wären so minimal, dass ein ganz leichtes Lächeln schon Glück, Freude, ein Lachen bedeutete. Ich wusste nicht warum, aber dieser Gedanke machte mich irgendwie ziemlich traurig,
-"Entschuldigung, dass ich so frage, aber was macht man so den ganzen Tag als Astronomin?", fragte sie und ich musste kurz lächeln. Noch war ich nicht mit dem Studium fertig, aber ich hatte schon eine Ahnung, was ich machen würde und in welche Richtung mein Berufswunsch tendierte. Ich wollte Astrophysikerin werden, an irgendeinem Forschungsinstitut arbeiten, obwohl dort meistens eine Promotion als Voraussetzung verlangt wurde. Ich hoffte einfach, dass ich nach dem Ende meines Studiums im nächsten Sommer irgendeine Art von Beruf finden würde, auch ohne einen Doktortitel. Denn der Erwerb von diesem würde mich nochmals mehrere Jahre an die Universität und an unendliches Schreiben, Lernen und Forschen binden.
"Noch studiere ich ja... Aber wenn ich fertig bin, dann sitze ich in irgendeinem Institut und verbringe meinen Tag damit, die Galaxien zu beobachten". Carmelina lächelte wieder kurz und meinte dann: "Das klingt wirklich schön...", wobei sie ihren Blick von mir abwendete und in den Raum sah. Der tiefe Blick aus ihren eisblauen Augen durchlöcherte alles und jeden - so fühlte es sich zumindest für mich an.
-"Ich habe Physik leider nach der zehnten Klasse abgewählt... Eigentlich ziemlich schade, aber ich hatte eine unmögliche Lehrerin", erzählte Carmelina mit etwas ruhigerer Stimme. Ich seufzte und musste irgendwie sofort an meinen Kunstlehrer in der Oberstufe denken. Hätte ich diesen Idioten nicht kennengelernt, dann wäre ich unter Umständen an diesem Abend eine von den vielen Kunststudenten und würde meine Bilder ausstellen. Die Entscheidung zwischen dem Leistungskurs in Physik und dem Leistungskurs in Kunst war für mich in der elften Klasse schließlich ziemlich schwer gewesen, am Ende hatte ich ersteres als Leistungskurs und letzteres als Grundkurs. Nun, im Nachhinein war ich ziemlich froh über diese Entscheidung, denn sonst hätte ich meinen Kunstlehrer noch öfter sehen und noch öfter diese unangenehmen Dinge erleben müssen.
"Ich kenne das gut mit den unmöglichen Lehrern... Ich hatte auch so einen... Lustigerweise in Kunst...", erzählte ich. Ob das so lustig war, wusste ich auch nicht, schließlich konnte sich mein Unterbewusstsein noch an alles erinnern, was er mir und den anderen jemals angetan hatte. Carmelina nickte: "Kunstlehrer können wirklich komische Menschen sein, da habe ich auch so meine Erfahrungen mit...". Ich sah sie an - dieses ganz leichte Lächeln war immer noch nicht aus ihrem Gesicht verschwunden. Es musste vollkommen idiotisch klingen, was mein Gehirn sich in diesem Augenblick zusammenreimte, aber es schaffte irgendwie Ruhe in meinen Gedanken, in Carmelinas leuchtend blaue Augen zu sehen und wahrzunehmen, wie sie mich anlächelt. Plötzlich musste ich gar nicht mehr so aktiv an meine Schulzeit und an meinen Kunstlehrer denken. Beides war nun weit weg in irgendeinem entfernten Teil meines Unterbewusstseins. In der Gegenwart gab es nur noch ein leises, für mich unheimlich interessantes Blickduell zwischen Carmelina und mir. Dass dabei ein warmes Gefühl in meinem ganzen Körper aufkam und ich begann, zu lächeln, blendete ich die meiste Zeit über auch vollkommen aus. Nach fast einer Minute wendete Carmelina sich ab.
-"Jetzt tränen meine Augen", flüsterte sie nach einem kurzen, leisen Kichern. Ich sah auch zur Seite, versuchte in diesem Moment Felix, den ich die ganze Zeit über schon fast vergessen hatte in dem Raum zu entdecken. Er stand in der hintersten Ecke und unterhielt sich mit seinen Kommilitonen.
Carmelina sah wieder zu mir, ich zu ihr. Unsere Blicke trafen sich ein weiteres Mal und ich spürte, dass sie mich nur anschauen musste, ihre eisblauen Augen in meine sehen mussten und ich dadurch begann, zu lächeln. Es dauerte nicht lange, sie schaffte es beinahe sofort und ich hinterfragte in diesem Augenblick auch nicht, warum das so war.
-"Was guckst du mich so an? Wartest du darauf, dass ich etwas sage?", fragte sie plötzlich flüsternd. Verdammt, ich wurde bestimmt total rot im Gesicht.
"Nein... Also... Vielleicht", sagte ich, innerlich schlug ich meinen Kopf gegen die Wand. Carmelina lächelte mich an - ich erkannte, dass sie schon etwas älter war, um ihre Augen herum hatten sich leichte Falten gebildet, aber trotzdem war ihr Lächeln ziemlich schön und wirkte irgendwie lieb und herzlich. Oder interpretierte ich dort zu viel hinein?
-"Ist in Ordnung...", meinte Carmelina dann und lächelte wieder. Ich wusste nicht, warum, aber es fühlte sich irgendwie gut an, von ihr angelächelt zu werden, denn jedes Mal kam sofort eine angenehme Wärme in meinem Körper auf. Das musste doch echt verrückt klingen, oder war ich etwa in sie verliebt? Nein, das war auszuschließen, wir kannten uns so wirklich erst seit knapp zehn Minuten und doch musste ich mich daran erinnern, wie ich die letzte Woche über zwischendurch immer wieder an Carmelina gedacht habe. Nicht alles sprach dagegen, aber so schnell ging das doch nicht mit dem Verlieben, oder? Und außerdem musste solch eine interessante, schöne Person, wie sie einen Freund oder eine Freundin haben. Es wäre für mich nur schwer vorstellbar, dass Carmelina alleine lebte.
-"Wollen wir kurz nach draußen gehen? Hier ist es ziemlich laut, um in Ruhe zu reden, findest du nicht?", fragte sie plötzlich und ich sah sofort in ihr Gesicht. Das leichte Lächeln war immer noch dort und ich bemerkte, dass die Haut ihrer markanten Wangenknochen leicht gerötet war.
"Ja, sehr gerne ", meinte ich einfach nur und sah Carmelina für eine Sekunde lang an, bevor wir durch die Tür auf den Flur verschwanden. Dort setzten wir uns auf die Treppe, welche eigentlich nach oben in die Seminarräume führte. Es war ziemlich dunkel, die einzigen Lichtquellen waren die hellen Lampen in dem Raum mit der Ausstellung und die Straßenlaternen draußen - ansonsten gab es nichts. Leicht angeleuchtet von dem gelblichen Licht der Straßenlaterne direkt vor der gläsernen Eingangstür glitzerten mich die eisblauen Augen meines Gegenübers an. Wir saßen mit etwa zwei Metern Abstand auf der Treppe und ich versuchte, möglichst unauffällig dabei zu sein, wie ich Carmelina von oben bis unten musterte.
-"In der Dunkelheit nimmt alles nochmal eine ganz neue Gestalt an", flüsterte Carmelina einfach feststellend und versuchte, sich ein paar ihrer schwarzen Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht gefallen waren, wegzustreichen. Ich nahm ihre Worte einfach hin, denn etwas faszinierte mich in diesem Moment so sehr, dass ich nicht geradeaus denken, geschweige denn sprechen konnte. Sie.

SalvatoreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt