The Interest Of Time
Sara Winter
-"Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder".
"Das hoffe ich auch, ich wünsche euch ganz viel Kraft und dass alles gut wird".
Mit diesen Worten verabschiedete ich Felix am frühen Nachmittag des elften Dezember am Bahnhof unserer Stadt. Er fuhr zu seinen Eltern in den Norden - in ein kleines Dorf unweit der Grenze zu Dänemark. Die Winterferien begannen erst in etwas mehr als einer Woche, trotzdem fuhr mein bester Freund schon zu diesem Zeitpunkt, aus einem unschönen Grund - sein Großvater war am gestrigen Nachmittag gestorben, Felix'Mutter ging es deswegen gar nicht gut. Und er entschied sich dazu, schon zehn Tage früher zu seiner Familie zu fahren, um diese zu unterstützen und bei seinen Eltern und Verwandten zu sein. Ich blieb mit gemischten Gefühlen in Hamburg zurück. Felix tat mir leid, wir hatten fast die ganze Nacht lang gesprochen und ihn machte es sichtlich traurig, dass sein Großvater, mit dem er früher viel Zeit verbracht hatte, nun nicht mehr da war. Aber ich war ziemlich einsam. Zwar traf ich mich an diesem Nachmittag mit Carmelina, aber das ersetzte wohl kaum meinen besten Freund und Mitbewohner, der erst zu Silvester wiederkommen würde.
Um kurz nach fünfzehn Uhr verließ ich den Bahnhof und machte mich auf den Weg dazu, mit dem Bus zur großen Elbstraße zu fahren, denn dort hatten Carmelina und ich uns verabredet. Ich war schon den ganzen Tag über angespannt, irgendwie nervös und das nicht nur, weil das alles mit Felix jetzt ziemlich schnell ging und ich mich darauf einstellen musste, die nächste Zeit über alleine zu sein, sondern auch wegen etwas anderem. Um ehrlich zu sein, konnte ich nicht definieren, was es genau war, aber wenn ich mich ganz genau damit auseinandersetzte, dann hing es auf jeden Fall mit Carmelina zusammen. Schließlich fragte ich mich schon in dem Moment, in dem ich im Bus saß und nervös auf die Uhr blickte, wie diese interessante Frau heute aussehen und wie sich unsere Gespräche gestalten würden.
An der großen Elbstraße, unweit von der Galerie, in der Carmelina und ich uns vor über einem Monat das erste Mal begegneten, stieg ich aus dem Bus aus. Auch, wenn ich eine erwachsene Frau, eine Studentin war, kam ich mir ein wenig verloren vor. Wir hatten uns um 15:30 Uhr verabredet und es war bereits 15:28 Uhr - ich setzte mich auf eine Treppe, von der man einen perfekten Blick auf die Elbe hatte. An diesem Tag war es ziemlich kalt, leichter Nebel lag auch nun, mitten am Tag, über dem Wasser. Die Kräne des Containerhafens waren am durch die neblige Luft nur schemenhaft zu sehen. Eigentlich hatte somit alles eine unheimliche Atmosphäre, die in mir nicht nur aufgrund der Kälte ein kurzes Zittern auslöste und ein der Panik ähnliches Gefühl in meinem Oberkörper aufkam. Zu meinem Glück wurde dieses Gefühl schon im nächsten Moment von mir weggenommen.
-"Da bist du also, Sara", nahm ich die freundliche, ruhige Stimme von Carmelina wahr, die scheinbar lautlos hinter mir aufgetaucht war. Sofort drehte ich mich um und stand auf, sodass die schwarzhaarige Frau und ich etwa auf Augenhöhe standen.
"Ja, hier bin ich", sagte ich einfach nur, um überhaupt irgendetwas zu sagen, worauf von Carmelina ein warmes Lächeln folgte. Eigentlich lächelte sie ziemlich wenig, aber für diesen Moment schien sich etwas geändert zu haben. Ich betrachtete sie ganz genau. Ihre eisblauen Augen leuchteten mich kühl an, fixierten mein Gesicht interessiert, ihre Wangen waren aufgrund der Kälte deutlich gerötet, die Lippen waren hingegen lila. Allgemein sah Carmelina ein wenig so aus, als würde sie frieren, schließlich sah ich, dass ihre Hände zitterten und ihre gesamte Körperhaltung ein bisschen verkrampft war. Trotz des fast bodenlangen schwarzen Mantels, den sie trug.
-"Es ist ziemlich kalt, oder?", fragte sie, als wir losgingen. Ich sah kurz auf meine Hände, welche ich gar nicht mehr wirklich spürte. Sie waren blass, die Gelenke gerötet, als hätte ich eine Schlägerei gehabt.
"Ja, ich spüre meine Hände nicht einmal mehr, so kalt sind sie", erzählte ich und wieder entstand solch ein Augenblick, wie auf der Treppe in der Universität schon. Denn Carmelina, die rechts neben mir ging, streckte ihr linke Hand ein wenig aus, es schien, als würde sie meine Finger jeden Moment berühren wollen, doch kurz davor stoppte sie. Trotzdem kam in mir ein ungeahntes, im positiven Sinne nervöses Gefühl auf, als ich mir bewusst machte, dass es fast zu einer Berührung kam.
Während wir gingen, unterhielten wir uns über alles Mögliche. Hauptsächlich über mein Studium und über Carmelinas Beruf als Künstlerin, denn dieser war sogar für mich interessant. Wie musste es sich nur anfühlen, diese wunderbare Gabe zu haben, alle Gefühle, die tief in einem sitzen und einen jeden Tag belasten, einfach in Form von Kunst verarbeiten zu können? Ich wollte das auch gerne können.
Als die Sonne gerade unterging, gingen wir oben an der Straße zurück zu der Treppe, an der wir uns getroffen hatten. Die Straßenlaternen leuchteten bereits und baten wenigstens einen kleinen Hauch einer warmen Atmosphäre inmitten der klirrenden Kälte.
-"Wohnt ihr eigentlich weit weg von hier? Also du und dein... Mitbewohner". Carmelinas Stimme klang ein wenig unsicher, als sie fragte, doch ich antwortete ihr in Ruhe.
"Etwa fünf Kilometer entfernt... Ziemlich in der Nähe der Universität".
-"Das ist natürlich praktisch...", meinte sie und machte dann eine kurze Redepause, bevor sie mich von der Seite ansah und fragte: "Sag mal, wie bist du denn überhaupt hierhergekommen? Du erscheinst mir nicht als der Typ Mensch, der sich in einen überfüllten Bus quetschen würde". Ich musste daraufhin ein wenig lächeln.
"Doch, tatsächlich bin ich genau so eine... Aber angenehm ist wirklich etwas anderes", sagte ich und dachte dabei an einige unangenehme Personen, denen ich mich in Bussen und Straßenbahnen schon ungewollt nähern musste. Carmelina lächelte und während wir gingen, sah ich ihr für einen kurzen Moment in die Augen. Im Licht der Straßenlaternen wirkten sie wirklich eisblau, jedoch mit einem warmen Gelbstich und ich meinte, erkennen zu können, dass ihre Pupillen auf meinen Blick in ihre Augen reagierten. Der Moment wurde fast schon seltsam, Carmelina entfernte sich nach einem Räuspern von mir und ich merkte, dass der Moment in der Tat komisch wurde, weswegen es letztendlich ich war, die das Thema wechselte oder eher die, die zum eigentlichen Thema zurückkehrte.
"Und du so? Also ich meine... Wo wohnst du so ungefähr?". Ich musste mich selbst zusammenreißen, denn die ganze Zeit über hatte ich die unstillbare Angst, ich könnte auf Carmelina wie eine Person mit negativen Intuitionen wirken. Aber sie antwortete ganz ruhig und ohne noch ein weiteres Mal nachzuhaken.
-"Ich wohne in der Speicherstadt... Ich weiß, das klingt erstmal ein bisschen komisch, aber meine Eltern hatten dort eine Wohnung und einen dazugehörigen Speicherboden... Und auf dem wohne ich jetzt... Der ist direkt neben dem Zollkanal", erzählte sie. Ich konnte es mir ziemlich gut vorstellen - dieser Ort, ein Speicherboden, passte wirklich zu ihr und dem künstlerischen Lebensstil.
Danach erzählte sie mir noch, dass sie mit ihrem Auto hierher an die große Elbstraße gekommen war und sie sich ein wenig dafür schämte, da sie eigentlich so weit wie möglich auf das Auto verzichten wollte. Und ich berichtete ihr mit einem gequälten Lachen davon, wie ich mit 18 meine Führerscheinprüfung verhauen und es danach nie wieder versucht hatte.
Schließlich kamen wir wieder an der Treppe an, Carmelina stand mir genau gegenüber und sah mich die ganze Zeit mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. Es war wie ein ganz leichtes Lächeln zusätzlich zu einem interessierten, musterndem Blick und blau leuchtenden Augen, die mich fokussierten. Strähnen ihrer schwarzen Locken wehten aufgrund des kalten Windes in ihr Gesicht, die gesamte Erscheinung dieser Frau wirkte plötzlich so stark und fast schon statuenhaft. Wobei letzteres mit Sicherheit auch an ihrem schwarzen Mantel lag, der fast bis zum Fußboden reichte. Und ich sah vor ihr vermutlich einfach nur unsicher, klein und seltsam aus.
-"Musst du denn unbedingt jetzt schon nach Hause?", fragte Carmelina mich ganz plötzlich. Eigentlich hatte ich andere Aussagen erwartet oder direkt eine Verabschiedung, doch jetzt kam das. Noch dazu klang ihre Stimme rau und war um einige Tonhöhen tiefer, als davor.
"Nein... Felix ist sowieso nicht da und wenn ich alleine bin... Nun ja...", begann ich und sah auf den Boden. In Carmelinas Augen konnte und wollte ich in dem Moment nicht sehen.
-"Na dann... Ich wollte dich nämlich fragen, ob wir vielleicht zu mir wollen... Der Speicherboden ist zwar klein und das Treppenhaus kommt fast dem Mount Everest gleich, aber ich habe guten Tee und Rotwein aus Italien", meinte sie. Der Ton ihrer Stimme hatte sich immer noch nicht geändert, stellte ich fest. Und was ich ebenfalls bemerkte, war, wie mein Herz mit jedem Wort, welches Carmelina sprach ein wenig schneller schlug. Sicherlich stieg gerade auch wieder diese Röte in meine Wangen.
"Ja, natürlich... Ich meine... Ja... Also, danke für das Angebot... Also nur, wenn es für dich in Ordnung ist", stotterte ich. Um Gottes willen war das peinlich. Aber Carmelina lächelte mich herzlich an, bevor sie sagte: "Wenn es für mich nicht in Ordnung wäre, warum würde ich dich dann fragen?".
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Salvatore
Romance~ ˢᵃˡᵛᵃᵗᵒʳᵉ ~ (Aus persönlichen Gründen vorzeitig beendet!!!) Eigentlich wollte Sara zu Hause bleiben und für ihre finale Klausur im Astronomiestudium lernen. Eigentlich wollte sie gar nicht mit ihrem besten Freund Felix, einem begeisterten Kunststu...