Kapitel 9: Facharbeit

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Überfordert stand Vic am Rande des Foyers im Reichstagsgebäude.
Immer einen zusätzlichen Schritt zur Seite gehend, wenn jemand in ihre Richtung lief. Sie wollte keinen Zusammenstoß, sie wollte unsichtbar bleiben.

Hinter sich hörte sie empörte Rufe von AKK.
Sie konnte gerade noch erkennen, wie sie und die anderen beiden Politiker von einem Security Beamten unter heftigem Protest abgeführt wurden.

Die Staatsanwältin zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. Damit hatte sie fast schon gerechnet. Ging sie eben erst mal alleine weiter.
Es wäre dennoch hilfreich gewesen, hätte sie jemanden dabei gehabt, der sich hier auskannte.

Sie ging ein paar Schritte und blieb vor einem an der Wand hängenden Monitor stehen. Seltsam. Dieser und die restliche Inneneinrichtung wirkten eigentlich ziemlich aktuell. Erstreckte sich das Zeitparadox nicht bis hierhin?
Als sie die Tagesordnung der heutigen Debatte las, wurde ihr jedoch heiß und kalt. 

Do., 11. Dezember 1975

209. Sitzung zu dem Gesetz über den Ehe- und Familiennamen — aus Drucksache 7/650, Drucksachen 7/3119, 7/3268, 7/3358, 7/3504, 7/4509 — und zu dem Ersten Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts (1. EheRG) — aus Drucksache 7/650, Drucksachen 7/4361, 7/4694 —

gemeinsame Abstimmung des deutschen Bundestages über die Änderungen

Die letzte Abstimmung war bereits heute?
Wie sollte sie hier noch eingreifen können? Sie konnte noch nicht gut genug zaubern.

An ihrem Rücken spürte sie einen sachten Zug. Scheiße, sie hatte nicht gut genug aufgepasst und ein Abgeordneter wäre beinahe in sie reingelaufen.
Sie musste in einem unbeobachteten Winkel den Umhang abnehmen und sich dann wie eine ganz normale Person benehmen. Das gelang ihr doch. Meistens.
Sie beschloss, die entgegengesetzte Richtung zu nehmen, zu der die meisten Menschen hinwollten.
Vielleicht gab es auf dem Weg eine Abstellkammer oder ähnliches.

Je weiter sie ging, desto mehr verlor sie allerdings die Orientierung. Sie hatte das Gefühl wichtige Zeit zu verlieren.
Und das rasend schnell.
Wenn nur nicht ihr Magen knurren und sie unkonzentriert machen würde.

Ehe sie sich versah, hatten sie ihre Füße zufällig vor die Kantine getragen.
Sie jubelte innerlich, aber wusste genau, dass sie eigentlich ziemlich aufgeschmissen war. Sie hatte weder Geld noch einen Ausweis dabei.
Sie konnte doch nicht wirklich jemanden anschnorren und dabei drohen aufzufliegen.
Aber heimlich unter dem Unsichtbarkeitsumhang schauen, was es gab, konnte sie doch wenigstens.

Sie schlich also an den silbernen Warmhalteplatten vorbei.  Es gab Braten mit brauner Soße und Kantinen Standard-Gemüse aus geriffelten Karottenscheiben, kleinen Blumenkohl und Brokkoli-Röschen. Es gab alternativ undefinierbaren Auflauf und es gab – Philipp Amthor.

Glücklicherweise vor und nicht auf der Theke.
Er stand, sein Honigkuchenpferd-Grinsen grinsend, freudig wippend mit einem Essenstablett in der Hand vor der dritten Ausgabestelle und nahm gerade eine Currywurst mit Pommes in Empfang.

"Jetzt muss ich mich aber beeilen, Merz macht sein Foto noch ohne mich!", rief er der Kantinenfrau zu.

Diese lächelte gequält zurück.

"Na, wen haben wir denn da?", ertönte es plötzlich direkt neben Vics Ohr.

Sie zuckte zusammen und zog hörbar Luft ein.

Amthor drehte sich daraufhin kurz um und schaute irritiert in ihre Richtung, nahm dann aber wieder strahlend seinen Weg zu den Tischen auf.
Auf halbem Weg stoppte er und lud sich noch zwei Desserts in Gläsern mit einem Schoko-Hufeisen zufrieden auf sein graues Tablett.

Das SchattenkabinettWo Geschichten leben. Entdecke jetzt