Kapitel 2: No Liquid

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Montag.
Vic band sich einen Pferdeschwanz – sie hatte heute keine Nerven für Haare im Gesicht – und hängte ihren Mantel an den Jackenständer hinter der Tür.
Sie ließ sich auf den Bürostuhl gleiten und drehte eine langsame Runde um die eigene Achse.
Wie konnte jedes Wochenende nur immer so schnell vorbei ziehen und ständig ein neuer Montag kommen?
Sie schloss die Augen während der PC leise surrte bis er vollständig hochgefahren war.

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Mit den Gedanken bei der Akte, die sie zuletzt bearbeitet hatte, stand die junge Staatsanwältin am Fenster ihres Büros und wärmte sich an der Tasse Kaffee in ihrer Hand.
Es dürfte schwer sein, den dauerhaften Enteignungswillen nachzuweisen. Selbst, wenn dolus eventualis dafür ausreichte. Schließlich wollte sich die Beschuldigte ja nur mal schnell die Chatverläufe ihres Ex - mit wem auch immer - auf seinem Handy anschauen und es laut ihrer Aussage wieder zurück geben. Dass dann ihr Neuer gleich mit einem Kumpel und einem Messer in der Wohnung auftauchen musste war wirklich unnötig.

Auf der Straße lief ein Mann mit zwei identisch aussehenden Hündchen schnellen Schrittes über die nasse Fahrbahn. Die acht kleinen Beinchen tippelten flink hinterher und sprangen über kleine Pfützen.
Es regnete immer wieder kurz. Dazwischen kam die Sonne raus und brannte mit all der Kraft, die sie noch im September hatte auf die dunklen Jacken, dunklen Jeans und dunklen Autodächer der Menschen unten.
Vic war ausnahmsweise dem Wetter entsprechend angezogen, auch wenn sie in der Früh lust- und ideenlos das Nächstbeste aus ihrem Schrank gegriffen hatte. Anzugshose und lockeres T-Shirt gingen immer. Heute musste sie nicht vor Gericht, wo der Staatsanwältinnen Dresscode schwarze Hose und weiße hochgeschlossene Bluse war.

Sie streichelte kurz über die wachsigen Blätter ihrer scheintoten Glücksfeder auf der Fensterbank und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

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"Hey, Vicky. Kommste mit vor die Tür?"
Vic hatte bereits auf das sanfte Klopfen am Türrahmen ihrer Bürotür reagiert und den Kopf gedreht. Ihr Kollege aus dem Nachbarbüro stand im Türrahmen.
"Klar!" Sie sprang auf, ließ PC und Akte geöffnet und schnappte sich ihren Mantel vom Haken.
Zügig liefen sie im Gleichschritt die Treppe nach unten. Ihr Kollege konnte die nächste Zigarette nicht erwarten und sie war froh, sich bewegen zu können. Sie fühlte sich rastlos. Die Arbeit ermüdete sie, doch der Kaffee hielt sie auf nervöse Weise wach.

Vor dem Gebäude pfiff der Wind. Vic stellte ihren Mantelkragen hoch und umfasste sich selbst mit den Armen.
"Und, woran arbeitest du heute?"
Ihr Kollege brummte, "Das Übliche. Erschleichen von Dienstleistungen. Alles mehrfache Wiederholungstäter. Da haben die Saarbahn-Kontrolleure wieder ganze Arbeit geleistet."
"Lass mich raten, die Täter sind sowieso alle mittellos und werden auch weiterhin schwarz fahren?"
"Jap." Er kratzte sich den roten fünf-Tage-Bart am Hals.
"Mh. Bei mir ist zwischen strafloser Gebrauchsanmaßung und schwerem Raub noch alles drin."
Er schnalzte ironisch anerkennend mit der Zunge: "Schön."
"Mhm. Die Zurechnung ist eklig. Ich weiß selbst nicht ob ich mich mir als Gericht anschließen würde. But I'll try."

Eine Wolke Rauch zog in ihr Gesicht. Ihr Kollege hatte in die entgegengesetzte Richtung gepustet, doch das war bei dem Wind sinnlos. "Sorry."
"Kein Ding. Ich geh noch ne Runde um den Block. Muss mir ein bisschen die Beine vertreten."
"Alles klar, bis später."
Vic lächelte leicht zur Verabschiedung, was ihr Kollege nicht mehr sehen konnte, weil sie sich schon umdrehte, während er seinen Zigarettenstummel auf den Boden schnipste.

Sie lief durch das Regierungsviertel Richtung Justizministerium. Die Treppenstufen zum Eingang legte gerade eine blondierte Frau mit gigantischem rosa-weißen Blumenstrauß zurück. Da gab es wohl einen Anlass für Glückwünsche. Der Boden des flach gepflasterten Vorplatzes war von schleimig gewordenen Blättern der kleinen Ahornbäume bedeckt. Vic seufzte und starrte auf den Verkehr der nahen Autobahnauffahrt.
Sie arbeitete seit einem Jahr für die Staatsanwaltschaft und fühlte sich, als würde sie es schon ihr Leben lang tun.
Sie tat sich schwer, die Leidenschaft, die sie eigentlich für ihren Traumjob empfinden sollte, aufrecht zu erhalten. Sie war mit dem Arbeitspensum ständig hart an der Überlastungsgrenze und gleichzeitig gelangweilt.
Ihrem Kollegen im Dezernat ging es nicht anders. Fließbandarbeit. Immer die Kleinkriminellen.
Sie wollte mal an die dicken Fische. Einen Erfolg feiern. Sich länger als einen halben Tag mit einem Fall beschäftigen können. Puzzlestücke zusammensetzen, Detektiv spielen.

Das SchattenkabinettWo Geschichten leben. Entdecke jetzt