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Detroit

Jay

Eine luftige Brise, die kalt sein sollte, weht über meinen Körper hinweg. Aus dem Blickwinkel sehe ich, wie eine Gänsehaut meinen Arm hinunterwandert, vom Ärmel meines schwarzen Shirts bis zu meinem Handgelenk, über meine vernarbte Hand bis hin zu der Tätowierung an meinen Fingerknöcheln. Eine Tätowierung, die ich mit meinem ganzen Wesen verachte.

Obwohl mein Körper auf die Kälte reagiert, ist mir jedoch nicht kalt. Mir war schon eine Weile nicht mehr kalt.

Mein Zeigefinger und mein Mittelfinger zittern leicht, als ich den Stängel meiner Zigarette zu meinen Lippen führe und einen langsamen, großen Zug nehme. Er brennt tief in meiner Lunge, sodass meine Augen leicht tränen. Die einzigen Tränen, die ich je wieder vergießen würde. Schließlich atme ich wieder aus. Rauschwaden wirbeln in der Luft, direkt vor meinen Augen. Mein Blick folgt ihnen träge, bis das erste Licht der Morgendämmerung sie einfängt und mich langsam den Kopf heben lässt.

Morgengrauen. Bittersüßer Morgengrauen.

Meine schweren Augen blinzeln gegen das aufsteigende Rot der Morgendämmerung, welches nun durch eines der zerbrochenen Fabrikfenster dringt. Der Beginn eines neuen Tages. Ein neuer Tag in dieser Hölle und ein weiterer Tag ohne sie an meiner Seite. Ohne meinen Bruder an meiner Seite.

Für einen kurzen Moment schließe ich meine Augen. Ich bin so verdammt müde, aber ich kann nicht schlafen. Ich konnte seit Tagen schon nicht mehr richtig schlafen. Ein hoher, durchdringender Schrei voller Angst dringt plötzlich durch meinen Kopf und verspottet mich dafür meine Augen geschlossen zu haben. Evelyn's eingefallenes, hilfloses Gesicht blitzt vor mir auf. Ihre hilflosen Augen flehen mich an, ihr zu helfen. Mein Puls beschleunigt sich augenblicklich und auch mein Atem geht schneller. Ihr Schrei wird in meinen Ohren nun schriller, während schnelle Atemzüge meinen Mund verlassen.

Ich versuche meine Augen zu öffnen, aber wie so oft bin ich hilflos. Meine Augen scheinen wie verklebt. Als wollten sie mich daran erinnern, dass sie Evelyn an die Russen verkauft haben und dass ich sie im Stich gelassen habe.

Mein Körper ist wehrlos und scheint nicht mehr richtig zu funktionieren. Ein heiser, erstickter Laut kommt über meine Lippen, als sich das Gesicht urplötzlich vor mir verändert. Jetzt ist es nicht mehr Evelyns eingefallenes Gesicht, das mich anschaut, sondern ihre grünen, verängstigten Augen. Ein Messer wird gegen ihre zarte Kehle gedrückt. Eine Kehle, die ich schon oft mit meinen Lippen entlang gefahren bin. Eine Haut, für die ich alles geben würde, um sie wieder zu küssen.

Entweder gibst du mir die Waffe oder ich nehme diese Fotze. Und ich habe vor, sie auf jede erdenkliche Weise zu nehmen!

Harsche Worte dringen nun durch meinen Kopf. In meiner Magengrube bildet sich Galle, während mir schwindelig wird. Schweiß rinnt mir über die Stirn.

„Onkel Reinier ist wieder da, ihr Schlampen!"

Ein rauer Atem dringt über meine Lippen und meine Augen reißen auf, als ich augenblicklich in die Realität zurück geholt werde. Meine folgenden Atemzüge sind hektisch, so als ob ich einen Marathon gelaufen wäre.

Fuck!

Nicht in der Lage mich zu bewegen, sitze ich im Dreck. Mein Körper zittert wie ein verdammtes Blatt in der späten Oktoberbrise. Ich versuche mich mit den Händen an beiden Seiten vom Boden abzustoßen, aber mein Bizeps gibt nach und meine Beine fühlen sich an wie Gelee. Meine Augen weiten sich und mein Atem stockt in meiner Kehle.

Ich bin nicht hilflos.

Ich schlucke und versuche es ein weitere Mal. Schließlich gelingt es mir, mich auf die Füße zu ziehen. Mit schwerem Atem drehe ich mich zur Seite, gerade rechtzeitig, um direkt in Reiniers dunkle, seelenlose Augen zu blicken, die nur ein paar Zentimeter vor meinem Gesicht schweben. Sein abgestandener Atem weht über mein Gesicht und bringt mich fast zum Würgen.

The one who splits my soulWo Geschichten leben. Entdecke jetzt