Der frisch gestärkte Kragen seines viel zu teuren Hemd kratzte unangenehm am Hals. Fahrig, mit zittrigen Fingern lockerte er den Stoff von der Haut und zwang sich, nicht mit den Nägeln über die brennende Haut zu fahren. Ob er wohl schon wieder rote Flecken hatte?
Dann die nächste Hand, die ihm hingestreckt wurde. Es wurde ein lasches Händeschütteln, das er abhandelte, ohne der Person in die Augen zu sehen. Wie am Fließband arbeitete er die Schlange der trauernden Menschen ab, streckte seine Hand aus, drückte schwitzige, kalte, warme, schwielige Finger. Wie am Fließband bewegte er den Arm nach vorne, umschloss mit seinen Fingern die wechselnden Hände, bewegte ihn einige Male auf und ab, bevor er den Arm wieder an seiner Seite hinabfallen ließ. Seinen Blick hielt er strikt auf den Boden gerichtet, von den Menschen vor ihm, nahm er lediglich die Hände und Schuhe war, wobei er sich wunderte, welche Vielfalt an Schuhen anscheinend für eine Beerdigung angebracht waren. Denn neben schicken Lackschuhen, sah er auch auf farbige Turnschuhe, Riemchensandalen und Trachtenschuhe mit dunkelgrünen Schnürsenkeln, die er schon seit seiner Kindheit nicht mehr gesehen hatte.
Der Kies unter seinen feinen Anzugschuhen war weiß und staubig. Er hatte immer fest daran geglaubt, dass es auf einer guten Beerdigung regnen müsste – schon allein aus Respekt den Verstorbenen gegenüber. Kalt und regnerisch sollte es sein, damit sich die Hinterbliebenen auch der harten Realität stellen müssten, dass sie von nun an auf ein Familienmitglied, Freund oder Nachbarn verzichten würden. Stattdessen schien die Sonne höhnisch auf sie herab und er studierte einen kleinen schwarzen Käfer, der sich durch das Gebirge der sorgfältig gepflegten Steinwüste pflügte.
Die vielköpfige Raupe aus Menschen schob sich einen Schritt nach vorne und streckte seine Fühler neu aus. Diesmal hatte sein Gegenüber üppig manikürte Nägel und war hartnäckig genug, ihn nicht wieder loszulassen, bis er selbst einige tröstende Worte hervorgepresst hatte. Während der kurzen Unterhaltung wünschte er sich nichts mehr, als endlich die juckende Stelle an seinem Hals berühren zu können. Als von ihm abgelassen wurde, hatte sich der rote Fleck in seiner Vorstellung bereits bis zu seinem Kinn vorgearbeitet.
Irgendwann war es vorbei, die Menschen zogen weiter in das Wirtshaus im Dorf und der Friedhof leerte sich. Der Ring um seine Brust begann sich für einen Moment zu öffnen, sodass er wieder etwas Luft in seine lechzenden Lungen ziehen konnte. Gleichzeitig war ihm klar, dass dies erst die Ruhe vor dem Sturm war. Er schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich ganz auf das Gefühl des gleichmäßigen Luftstroms, der durch Nase und Rachen in seine Bronchien, zählte bis acht. In dieser himmlischen Ruhe, in der er seinen Kopf entleerte, zählte er bis vier. Als er die Augen wieder öffnete, ließ er auch seinen Atem entweichen und blähte dabei die Backen. Das Atmen hatte er in einer Therapiesitzung gelernt und zunächst als völligen Esoterik-Blödsinn abgestempelt. Nach einigen Wochen hatte er zu seinem Leidwesen festgestellt, dass es ihm das Intermezzo besser den Kopf frei räumte als seine heiß geliebten Zigaretten. Allerdings hatte diese Erkenntnis nicht dazu geführt, dass er das Rauchen hätte sein lassen. So ließ er auch jetzt seine Finger in die Innentasche seines Sakkos gleiten und beförderte Schachtel und Feuerzeug hervor. Erst als der bläuliche Rauch vor ihm aufstieg und sich seine Lungenbläschen mit einem Aufschrei gegen die Misshandlung wehrten, fühlte er sich wieder wie ein Mensch.
Der erste Teil war also geschafft. Der Kies knirschte und raschelte, als er sich zu dem Grab neben ihm umdrehte und er das erste Mal einen Blick hineinwarf. Da lag er nun, der Sarg aus Eichenholz – auf ihm ein Blumenmeer und verstreute Krümel Erde und Sand. Und in der Kiste, eingehüllt in einen schwarzen Anzug, gebettet auf elfenbeinfarbener Seide, lag ein gebrochener Körper. Ein Körper, der einen getriebenen Mann beherbergt hatte und nun den Dienst quittiert hatte. Für manche ein Tag zum Trauern, für andere ein Tag zum Feiern. Er zog wieder an seiner Zigarette, zählte bis acht, quälte seinen Körper, während er vier Takte wartete und blies den Rauch langsam aus, bis die acht wieder erreicht war. So gefiel ihm die Atemübung am besten.
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Love and Destroy
General Fiction„Er vermisst dich", brachte sie schließlich hervor. „Weißt du das überhaupt?" ~ Als Michaels Vater stirbt, scheint es an der Zeit für ihn mit alten Wunden abzuschließen und sich ein neues Leben aufzubauen. Darüber, dass in seiner alten Heimat ungel...