4 | Ende Februar 2019

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Jedes Mal, wenn er Christian während der folgenden Woche auf der Arbeit gesehen hatte, hatte sich ein Sturm in seinem Inneren zusammengebraut, der drohte, seine Gefühle in pures Chaos zu verwandeln. Die markanten Gesichtszüge hatten ihn seit ihren gemeinsamen Stunden in deren Bann gezogen, gemeinsam mit den weichen schwarzen Haaren und dem Tattoo, das seinem Aussehen einen Hauch von Unnahbarkeit verlieh.

Aber zu seiner absoluten Erleichterung tat Christian genau das, um was er ihn gebeten hatte: Er verhielt sich völlig unauffällig. Gerade einmal ein kurzes Nicken auf dem Gang tauschten die beiden, als sie sich zur Mittagszeit vor der Kantine trafen. Nur der dezente Hauch des Orangenaromas, das Christian nach wie vor umfing, erinnerte ihn an die Vertrautheit, die noch vor wenigen Tagen zwischen ihnen geherrscht hatte. Die jetzige Distanziertheit beruhigte einerseits zwar Michaels Nerven, der immer noch Angst davor hatte, dass seine Sexualität auch zwischen seinen Kollegen offengelegt werden könnte, aber sie löste auch andere Gefühle in ihm aus.

Die Nacht mit Christian war für ihn, trotz des unangenehmen Ausgangs, etwas Besonderes gewesen. Auch wenn der Alkohol Einfluss auf seine Entscheidung genommen hatte, sich auf ihn einzulassen, hatte ihn die Nähe zu dem anderen Mann auf eine Art befreit. Nicht nur, weil er nach viel zu langer Zeit wieder seinem Verlangen nachgegeben hatte, sondern weil er auch endlich zu sich selbst gestanden hatte, wie er es sich im Gespräch mit Felix nach der Beerdigung seines Vaters versprochen hatte. Allerdings war es eine Freiheit, die ihm ebenso aufzeigte, dass er sich nicht nur entscheiden konnte, sondern es auch musste. In den letzten Monaten hatte er sich zurückgezogen, sich kaum mehr zu harmlosen Affären hinreißen lassen, denn die Zeit hatte er gebraucht, um mit den Zweifeln abzuschließen, die nach den Geschehnissen mit Julia und Simon in ihm gewachsen waren. Die wenigen Nächte, die er mit Frauen verbracht hatte, konnten sein Verlangen nach Nähe nicht stillen. Dagegen war die Nacht mit Christian eine Offenbarung gewesen.

Jedes Mal, wenn er in dieser Woche also Christian aus der Ferne beobachtete, wie dieser sich im Overall mit seinen Kollegen an dem Logo der Außenfassade des anderen Gebäudes zu schaffen machte, nahm der Sturm in ihm an Fahrt auf und spülte Gedanken an die Oberfläche, die es ihm schwer machten, sich auf die Meetings zu konzentrieren. An manchen Gelegenheiten ertappte er sich auch dabei, wie er beim Rauchen Ausschau nach schwarzen Haaren hielt, in der stummen Hoffnung, noch einmal mit ihm sprechen zu können. Unverfänglich, unverbindlich. Er wünschte sich, den Moment vor dem Club wiederholen zu können, als sie im Schneetreiben nebeneinander gestanden hatten und es noch keine Enttäuschung zwischen ihnen gegeben hatte, keine unerfüllten Hoffnungen. Nur ein geteilter Augenblick und dessen scheinbarer Frieden.

Es war ihm nicht klar, ob er sich nach Christian sehnte, weil die gemeinsame Nacht zumindest für ihn selbst in einem unglaublichen Höhepunkt gegipfelt hatte, oder weil ihm Christian mit seiner Selbstsicherheit imponiert hatte und er sich jemanden wie ihn in seinem Leben wünschte. Jemanden, der sich sicher war, wer er war und nicht in Klischees dachte. Verdammt, ein Handwerker, der offen schwul lebte? Und er fürchtete sich vor seinen weichgespülten Bürokollegen, die sowieso jedes Jahr die Abteilung wechselten, immer auf der Jagd nach Gehaltserhöhungen und neuen Herausforderungen, wie es so schön hieß. Aber war er deswegen bereit für ein Coming Out? Sicher nicht.

Dennoch – jemand, dem er sich anvertrauen konnte und der ihn nicht verurteilen würde für seine Entscheidungen, fehlte ihm sehr. Er hörte wieder Felix in seinen Gedanken wie er ihm Mut zusprach.

Vor seinen Freunden in der Stadt spielte er immer noch den Frauenschwarm und weder Julia noch Simon, die die Wahrheit über ihn kannten, boten sich als bereitwillige Gesprächspartner an. Auch wenn sich sein Verhältnis zu Felix langsam besserte, sie waren noch nicht wieder an dem Punkt, an dem sie sich über solche intimen Details austauschen konnten.

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