#01 Schokolade essen bis ich Bauchweh habe

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Freitag, 29. September - 21:47 Uhr

Die ganze Fahrt nach Hause sprach ich kein Wort. Ich lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Ich war froh, dass niemand im Auto mir Fragen stellte, über das, was passiert war. Hin und wieder warf mir Hannah, die ebenfalls auf dem Rücksitz Platz genommen hatte, einen besorgten Blick zu. Aber da ich weder Lust noch Kraft dazu hatte, darüber zu sprechen, ignorierte ich ihre Blicke und stellte mich schließlich schlafend.

Nach einer Weile begann Hannah ganz leise, sich mit Jay zu unterhalten.

"Jay?"

"Ja?"

Hannah wirkte unsicher und machte eine kurze Pause, ehe sie weitersprach.

"Woher wusstest du eigentlich, dass das eine Panikattacke war und wie man darauf richtig reagiert?"
Jay atmete hörbar ein und wieder aus.
"Sorry, wenn ich dir mit der Frage zu nahe getreten bin. Das geht mich eigentlich auch nichts an! Ich..." quasselte Hannah los, "ich war in dem Moment einfach total überfordert und wusste nicht, wie ich Tim helfen konnte, aber du bist so ruhig geblieben und wusstest sofort, was zu tun war."
Jay lachte leise auf. "Schon gut, mach dir keinen Kopf." Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. "Meine Ex-Freundin hatte früher öfter Panikattacken. Deshalb habe ich die Symptome sofort wiedererkannt. Wir haben uns damals bei einem Psychologen darüber informiert, wie man sich in dieser Situation verhalten sollte. Er hat uns dann mehrere Schritte erklärt, aber das Wichtigste ist, die Atmung wieder in den Griff zu kriegen."
"Ich bin froh, dass du da warst, Jay. Danke!"

"Nicht dafür!"

Dann wurde es wieder still im Auto. Meine Gedanken begannen zu kreisen. Seit unserer Trennung hatte ich Anton nicht mehr gesehen, was auch gut war. Ich habe versucht, jegliche Gedanken an unsere gemeinsame Zeit in der hintersten Schublade meiner Erinnerungen zu vergraben. Ich dachte, ich hätte mit ihm abgeschlossen. Doch jetzt ist diese Schublade wieder aufgesprungen und alles, was dort drin war, überflutete mich. Alte Erinnerungen machten sich in mir breit und ich drohte darin zu ertrinken. Ich merkte, wie eine heiße Träne über meine Wange lief und wischte sie schnell ab, bevor sie jemand entdecken konnte.

Das Auto hielt an und Jay erklärte vorsichtig: "Wir sind da!"
Ich öffnete die Augen und schaute aus dem Fenster. Wir waren vor Hannahs Haus. "Du übernachtest heute bei mir!" Ich schaute Hannah, die sich gerade abschnallte, fragend an. "Du glaubst doch nicht, dass ich dich heute, nach dem was passiert ist, alleine lasse?"

Ich würde eigentlich viel lieber in meinem eigenen Bett schlafen, aber ich war zu müde, um mich dagegen zu wehren. Also schnallte auch ich mich ab und kramte nach meinen Sachen, während Hannah ausstieg und sich bei Jay fürs Mitnehmen bedankte.

"Jay...", brachte ich hervor, nachdem ich meine Sachen eingesammelt hatte, "ich, ähm... ich möchte mich bei dir bedanken. Also wegen vorhin. Ich weiß nicht,..."
"Hey, kein Ding!"

"Und sorry, dass ich euch die Party versaut habe! Ihr hättet ruhig bleiben können, ich hätte es schon irgendwie nach Hause geschafft."
"Mach dir keinen Kopf!" Er drehte sich im Sitz um und lächelte mich ruhig an. "Hauptsache es geht dir wieder besser."

Ich nickte. "Danke fürs Fahren! Und komm noch gut nach Hause!" Wieder lächelte Jay und ich erwiderte es, ehe ich ausstieg.
"Lass uns schnell ins Warme. So langsam merkt man den Herbst", meinte Hannah und hielt mir eine Hand hin, die ich lächelnd ergriff.

***

"Wie gut, dass ich dir das noch nicht zurückgegeben habe." Hannah streckte mir mein Oversized T-Shirt, das ich ihr im Sommer einmal ausgeliehen habe, entgegen, nachdem ich die von ihr geborgte Jogginghose angezogen hatte. Der Blick in ihren Standspiegel verriet mir, dass ich ebenso erschöpft aussah, wie ich mich in dem Moment fühlte. Keine zwei Stunden vorher war ich noch guter Dinge gewesen, die Herausforderung, die ein Partybesuch mit sich bringt, meistern zu können. Aber ich hätte auf meinen ersten Instinkt hören sollen. Dann hätte ich Anton nicht wiedergesehen. Dann hätte ich mir weiter vormachen können, über ihn hinweg zu sein.

"Alles klar?" Hannah hatte inzwischen auf ihrem Queensize-Bett Platz genommen. Sie hat sich in ihren Pyjama geworfen und ihre Haare locker zu einem Zopf zusammengebunden.

"Mhm!" Ich setzte mich zu ihr aufs Bett.

Sie runzelte ungläubig die Stirn. "Du weißt, du kannst mit mir über alles reden."

Ich nickte. "Ich weiß... Aber was gibt es da schon zu sagen? Ich dachte, dass ich zumindest einen Abend wie ein normaler 19-Jähriger verbringen kann, aber nein... Und dann gehe ich gleich in den völligen Panikmodus, nur weil ich..." Ich schüttelte den Kopf und biss meine Zähne zusammen, sodass sich meine Kiefermuskulatur anspannte. "Ach verdammt, ich bin eine totale Baustelle!" Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare und vergrub anschließend mein Gesicht in meinen Händen.

"Ich habe gesehen, dass Anton auf der Party war und dass ihr euch begegnet seid. Du bist deshalb weggelaufen, oder?"

Wieder nickte ich. "Ich dachte echt, dass mir mein Ex mittlerweile egal ist, aber da habe ich mich wohl getäuscht. Und dann kam auch noch dieses Mädchen dazu..." Offenbar erkannte das Mädchen, Sarah, wie sie sich vorstellte, mich noch nicht einmal wieder. Wahrscheinlich wusste sie auch an jenem Abend nicht, wer ich war. Woher denn auch? Anton wollte unsere Beziehung ja geheim halten. Er hat ihr bestimmt nichts von mir erzählt. Hatte ich etwas anderes erwartet? Vielleicht! "Es war einfach zu viel. Aber dass ich wegen sowas eine Panikattacke bekomme..."
"Es tut mir so leid, Tim. Das ist alles meine Schuld. Ich hätte dich nicht zu dieser Party drängen dürfen. Aber ich dachte mir, dass es dir bestimmt gut tun würde, wenn du mal unter Leute kommst und dich wieder daran erinnerst, wie viel Spaß dir das einmal gemacht hat. Aber ich hätte dein Nein akzeptieren müssen. Ich bin so eine schlechte Freundin!"
Ich griff nach ihrer Hand. "Das ist doch nicht deine Schuld, Hannah! Wenn ich nicht hätte gehen wollen, hättest du es auch nicht geschafft, mich dazu zu überreden. Du kennst mich. Du weißt, wie stur ich sein kann. Aber ich selbst hatte das Gefühl, dass ich das schaffen kann. Ich WOLLTE es schaffen. Es war doch verdammt noch Mal NUR eine Party. Das sollte doch nicht so schwer sein."

"Du kannst doch nichts für deine soziale Phobie. Hör auf dir Vorwürfe zu machen. Wenn du jemandem Vorwürfe machen willst, dann wäre es Anton!"

Ich überlegte kurz. Ich konnte in gewisser Hinsicht wirklich nichts für meine Angst. Ich konnte sie ja nicht steuern. Aber es war meine Schuld, dass ich mich so lange von ihr habe einschränken lassen. Ich hätte etwas dagegen unternehmen müssen. Hätte mir früher Hilfe holen können.

"Nein! Das bringt doch auch nichts. Ich muss das in den Griff bekommen. Und diesmal ernsthaft. Ich muss mich meinen Ängsten stellen. Ich kann nicht weiterhin Allem ausstellen, nur weil es der einfachere Weg ist." Ich stand auf und ging zu meinen Sachen, die ich über den Schreibtischstuhl gelegt hatte. Aus meinem Portemonnaie holte ich meine 30-Tage-Liste heraus. Ich setzte mich wieder zu Hannah und faltete das Blatt sorgfältig auseinander. "Ich werde meine Liste abarbeiten. Und das ist diesmal nicht nur so dahingesagt. Bis Ende des Jahres möchte ich mein altes Leben wieder haben, oder zumindest den positiven Teil davon."

"Das finde ich super!" Hannah lächelte mich an und krabbelte auf allen Vieren übers Bett, um sich direkt neben mich zu setzen. Sie legte ihren Arm um mich und gemeinsam lasen wir uns noch einmal meine Liste durch. Dann sprang Hannah auf und lief zu ihrem Schreibtisch. "Ich finde, du solltest heute damit starten." Aus der Schublade zog sie eine Packung Pralinen und drei Tafeln Schokolade. "Am Besten wir starten heute mit Punkt 1: Schokolade essen, bis du Bauchweh hast. Und ich mache mit!"

30 things to doWo Geschichten leben. Entdecke jetzt