Freitag, 29. September - 18:37 Uhr
"Ich kann das nicht, Hannah!" Mit zittriger Hand drückte ich mein Handy ans Ohr.
"Ach komm schon, Tim. Du rufst mich jetzt schon das dritte Mal an."
"Ich habe es versucht, Hannah! Ich habe versucht, mich mit dem Gedanken anzufreunden, mich in eine angetrunkene, wild gewordene Menschenmenge zu stürzen und dabei so zu tun, als würde ich dorthin passen. Aber ich kann es nicht. Noch nicht einmal gedanklich, verstehst du? Wie soll ich das dann durchziehen? Du solltest ohne mich gehen." Ich versuchte meiner Stimme Nachdruck zu verleihen. "Das ist zu viel für mich."
"Okay, Tim. Du klingst gar nicht gut." Hannah klang besorgt. "Setz dich hin und atme tief ein", ich höre wie sie am anderen Ende der Leitung einen tiefen Atemzug nimmt, "und wieder aus." Ich gehorchte und machte es ihr gleich.
"Besser?"
"Etwas. Aber auf die Party will ich immer noch nicht!"
"Du musst auch nicht. Ich dachte nur, nachdem mich mein Arbeitskollege eingeladen hat und du es auf deiner Liste hast, dass sich das perfekt ergeben hätte. Wie lange warst du nun schon nicht mehr unter Leuten? Geschweige denn auf einer Party?"
"Weiß ich nicht", versuchte ich so gleichgültig wie möglich zu antworten, doch das war gelogen. Ich wusste es ganz genau und das wusste Hannah auch. Es war nämlich an Silvester im letzten Jahr. Unweigerlich spielte sich diese Erinnerung vor meinem inneren Auge ab.
Ich war mit Anton auf dieser total luxuriösen Silvesterparty von einem seiner Kindheitsfreunde. Ich war super nervös, weil ich dachte, dass ich nun endlich seine Freunde kennenlernen würde. Wir waren damals seit fast einem Jahr zusammen. Anton wollte sich mit seinem Outing Zeit lassen, er hatte mir erklärt, dass er aus einer sehr konservativen Familie stammt und auch seine Freunde seien so erzogen worden.
Mein Outing lief hingegen sehr gut. Meine Mum hat mich in den Arm genommen und meinte, sie hätte es schon seit Langem geahnt und sie sei froh, dass ich endlich mutig genug war, ihr davon zu erzählen. Hannah hingegen wusste sowieso von Anfang an Bescheid. Sie war sogar diejenige, die mir geholfen hat, das Ganze zu begreifen, damals in der siebten Klasse, als ich beim Flaschendrehen so gehofft hatte, die Flasche würde bei Danny, dem gut aussehenden und breit gebauten Fußballer, stehen bleiben. Aber leider hatte ich Pech gehabt und ich musste Fiona küssen. Darüber habe ich mich dann bei Hannah anschließend natürlich ausgiebig beschwert, ohne genau zu wissen wieso. Fiona war sehr hübsch und auch nett. Aber es fehlte eben etwas...
Jedenfalls konnte ich daher nicht nachvollziehen, wie es war, wenn man sich vor der Reaktion seiner Familie und Freunde fürchten musste, weil man vielleicht verstoßen werden könnte. Deshalb wollte ich mich in Antons Outing auch nicht einmischen. Ich hatte ihm alle Zeit der Welt gegeben, aber an Silvester sollte es endlich soweit sein. Er wollte endlich offiziell zu seiner Liebe zu mir stehen, aber dazu kam es nicht. Denn nachdem ich kurz vor Mitternacht von der Toilette kam, war Anton plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Ich machte mich natürlich sofort auf den Weg ihn zu suchen, immerhin freute ich mich schon seit einer Ewigkeit auf meinen allerersten traditionellen Kuss um Punkt Mitternacht. Und dann auch noch mit meinem ersten festen Freund. Doch wo war er nur? Hektisch lief ich die Villa, in der die Silvesterfeier stattfand, ab. Ich öffnete gefühlt jede Tür in diesem Haus, aber nichts. Also lief ich auf den Parkplatz, als ich von drinnen den Countdown starten hörte.
10... 9...
Wo war Anton nur? Ich sah mich auf dem Parkplatz um. Ein paar Pärchen lagen sich mit einem Glas Sekt in der Hand in den Armen und blickten in Erwartung des Feuerwerks in den Himmel.
8... 7...
Hier war er auch nicht. Es sei denn, er hat etwas im Auto vergessen? Wo war noch einmal das Auto?
6... 5...
Ach ja, genau, etwas Abseits unter dem großen Baum. Wenn ich jetzt laufe, dann schaffe ich es vielleicht noch.
4... 3...
Ich erreichte das Auto, das komischerweise von innen beschlagen war. Also war er tatsächlich dort. Ich öffnete die Autotür.
2...
Überrascht, halb entkleidet und schweren Atems starrte Anton mich an und hielt in der Bewegung inne.
1...
Ein zweites Augenpaar starrte in meine Richtung. Auch sie war halb entkleidet und hatte die Arme fest um ihn geschlungen, während sie unter ihm lag. Ihre lusterfüllten grünen Augen und die wild abstehenden braunen Haare vervollständigten das Gesamtbild.
Happy New Year!
Wie angewurzelt stand ich dort. Hinter mir hörte ich fröhliches Jubeln, das vom lauten Knallen des Silvesterfeuerwerks übertönt wurde. 3, 4, vielleicht sogar 5 Sekunden stand ich da, mit gebrochenem Herzen und der Autotür in der Hand, bis mein Körper auf "Notstrom" umstieg. "Happy New Year", brachte ich mit überraschend fester Stimme hervor, bevor ich die Autotür zuschlug und den ganzen Weg nach Hause lief.
Das, was danach folgte, als unschön zu beschreiben, wäre vermutlich noch eine Untertreibung. Die Trennung war, naja ... Antons Worte ... Ich war am Boden zerstört, verließ für mehrere Wochen das Haus nur um zur Schule zu gehen - immerhin stand der Schulabschluss vor der Tür - und verschanzte mich anschließend wieder in meinem Zimmer. Ich hatte mich mit der Zeit so sehr daran gewöhnt, dass ich noch nicht einmal bemerkte, dass ich komplett außer Stande war, aus eigener Kraft aus diesem Loch herauszukommen. Das Souvenir, das mir aus dieser Zeit geblieben ist, meine soziale Phobie, hindert mich auch heute, fast 10 Monate später, noch daran, ein normales, unbeschwertes Leben zu führen.
"Tim, bist du noch da?" Mit diesen Worten wurde ich in die Gegenwart zurückgeholt. Gerade noch rechtzeitig, bevor mich ein erneuter depressiver Schub übermannt hätte. "Hör zu, die Entscheidung liegt ganz bei dir. Es ist auch keine große Party, vielleicht 20-30 Leute. Ich werde nicht von deiner Seite weichen..."
"Okay!""... und wir können auch jederzeit gehen, wenn es dir zu viel wird... Moment, hast du gerade 'Okay' gesagt?"
"Ja! Aber nur weil du's bist! Es klingt, als sei dir diese Party wichtig und außerdem tut es mir bestimmt gut, Mal wieder unter Leute zu gehen."
"Du bist ein Schatz, Tim! Und vielleicht schaffst du ja heute gleich mehrere Punkte von deiner Liste zu streichen, wer weiß?"
"Jetzt werd nicht gleich übermütig", scherzte ich. "Wie spät geht's los?"
"Die Party startet um neun. Also komm ich dich um halb neun abholen?"
"Alles klar! Dann bis später!"
Ich hörte, wie Hannah noch einen Kuss auf ihr Handy drückte, bevor sie auflegte.
Jetzt hatte ich mich doch glatt zu dieser Party bequatschen lassen. Ich bereute es jetzt schon.
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30 things to do
RomanceDer einst so offene und lebensfrohe Tim leidet seit der Trennung von seinem Freund unter Sozialer Phobie. Durch seine beste Freundin Hannah erfährt er von der 30-Tage-Challenge. Nachdem er diese zu Beginn wenig ernst nimmt, veranlasst ihn ein Ereign...