Etwa zwanzig Minuten später war Jay mit seiner Schicht fertig und wir suchten uns einen freien Tisch. Dabei ließ mich Jay vorausgehen und hielt sich bei der Platzwahl zurück. Ich ging bis ans Ende des Raumes und suchte mir einen Platz an der Fensterfront. Jay nahm mir gegenüber Platz.
"Geht es hier in Ordnung?", fragte er und sah sich um.
Ich nickte. Ich mied es, in der Raummitte zu sitzen, sondern suchte mir immer einen Platz in einer Ecke, mit dem Blick in den Raum. So hatte ich alles im Blick, was mir ein Gefühl von Sicherheit gab, wodurch sich meine konstante innere Unruhe in Grenzen hielt. Die Stimmen der anderen Gäste mischten sich ineinander und klangen wie eine dumpfe Hintergrundmusik.
Jay musterte mich. Dann fragte er vorsichtig: "Darf ich dich etwas fragen?"
Etwas verwundert über seine Frage nickte ich vorsichtig.
"Hast du das eigentlich öfters? Ich meine, dass du dich unwohl fühlst, wenn mehrere Leute da sind."
Wieder nickte ich, diesmal kaum merkbar. Ich hatte das Gefühl, Jay würde in dieser Sache nicht weiter nachfragen, aber irgendwie hatte ich das Bedürfnis, mich zu erklären.
"Seit etwa 10 Monaten." Jay nickte, trotzdem fügte ich hinzu: "Also seit ich mich von meinem Freund getrennt habe." Wieso genau ich ihm das erzählt habe, konnte ich mir in diesem Moment selbst nicht ganz erklären. Ich hatte kein Problem, zu meiner Sexualität zu stehen, das hatte ich noch nie, aber war ich auch nie die Sorte Mensch gewesen, diese Information jedem auf die Nase zu binden. Doch war ich neugierig, wie Jay darauf reagieren würde. Die meisten Menschen reagieren auf dieselbe Art und Weise, sie versuchen mich zu labeln und wollen dazu meist eine genauere Information worauf meist die Frage: "Oh, du bist also schwul?" folgt. Nachdem ich ihnen dies bestätige und sie wissen, in welche Schublade sie mich stecken können, da ich aus Versehen aus der "Hetero–Schublade" gefallen war, kommen anschließend meist gut gemeinte Komplimente wie: "Du schaust aber gar nicht schwul aus!", oder "Das hätte ich nicht gedacht, du wirkst gar nicht so." Gefolgt von einer Erklärung ihrerseits, dass sie absolut kein Problem mit meiner Sexualität haben - als hätte ich nach ihrem Segen gefragt. Dies trifft vor allem auf jene Leute zu, die ich nicht besonders gut kenne, oder auf die älteren Generationen, aber es kommt doch noch öfter vor, als man vielleicht denken würde.
Aber zu meiner Überraschung kam von Jay kein einziger Kommentar zu meiner Sexualität.
"Dann war es eine schlimme Trennung?"
"Kann man so sagen."
Jay nickte mitfühlend. "Und wie geht es dir jetzt?" Etwas überrascht über diese Frage musste ich einen Moment in mich hineinhören. Die Frage klang ehrlich gemeint, weshalb mir ein schlichtes "gut" unpassend vorgekommen wäre. Es war lange her, dass mich jemand außerhalb meines engen Freundeskreises oder meiner Familie danach gefragt und sich darauf eine ehrliche Antwort erwartet hatte.
"Hmm, das ist schwierig zu beantworten. Im Moment, so wie ich hier sitze, geht es mir ganz passabel. Ich fühle, dass ein Druck auf meiner Brust liegt, aber er ist gut auszuhalten. Aber wenn ich an meinen Ex denke, oder ihm begegne, dann wird der Druck so stark, dass es mir die Kehle zuschnürt und ich das Gefühl habe, keine Luft mehr zu bekommen. Das war auch die Ursache für meine Panikattacke letzte Woche. Ich bin wortwörtlich in meinen Ex hineingelaufen. Ansonsten habe ich das normalerweise mittlerweile einigermaßen im Griff." Ich versuchte, die aufkeimende Unruhe, beim Gedanken an Anton, zu kontrollieren. Also atmete ich tief durch, hielt meinen Atem an und atmete langsam wieder aus.
Jay lächelte sanft: "Dann hilft dir die Atemübung?"
"Ja, die hilft mir tatsächlich sehr, meine innere Ruhe" - oder eine annähernde innere Ruhe - "wiederzufinden. Danke!", ich lächelte.
Normalerweise brauche ich sehr lange, bevor ich Menschen mein Innerstes anvertraute, doch obwohl ich Jay kaum kannte, hatte ich das Gefühl, mit ihm darüber reden zu können. Er strahlte eine Vertrautheit aus, die ich selten so schnell bei einer Person gespürt hatte. Dennoch hatte ich das Gefühl, ihm ungefragt etwas aufgeladen zu haben, weshalb ich mich revanchieren wollte, indem ich ihm die Möglichkeit bot, auch über seine Trennung zu sprechen - wovon der schlafende Tim ja noch nichts wusste. Im Sinne von "geteiltes Leid ist halbes Leid".
"Woher kennst du diese Atemübung eigentlich?"
"Meine Ex-Freundin litt ebenfalls unter Panikattacken, weshalb wir uns nach Möglichkeiten zum Umgang damit informiert hatten."
"Wie lange seid ihr schon getrennt?"
"Hmm...", überlegte Jay, "jetzt ist es fast ein Jahr her. Aber wir sind im Guten auseinander gegangen. Wir waren fast 3 Jahre zusammen und haben uns über diese Zeit auseinander gelebt."
"Dann hatten ihre Panikattacken nichts mit eurer Trennung zu tun?"Jay lachte auf: "Nein, wieso denn auch?"
Seine Antwort stimmte mich glücklich. Ich hatte mir in den letzten Monaten immer wieder die Frage gestellt, ob ich irgendwann, wenn ich über Anton hinweggekommen bin, noch einmal jemanden finde, bei dem ich ich selbst sein kann. Aber ich hatte die Befürchtung, dass meine Angstzustände und die Panikattacken einen absoluten Abturner darstellen. Wenn ich dieses Problem nicht in den Griff bekomme, könnte das heißen, dass ich alleine bleiben werde, denn wer würde meine Laster gemeinsam mit mir schultern? Jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen. Auch wenn das alles noch in ferner Zukunft liegt, hatte ich bereits verschiedene Szenarien in meinem Kopf durchgespielt und nur die wenigsten davon hatten einen positiven Ausgang."Mal was anderes: Bist du mit deinem Zimmer fertig geworden?" Ich starrte ihn fragend an. "Ich habe das Bild auf Instagram gesehen, wie du und Hannah damit beschäftigt wart, die Wand zu streichen", fügte er ergänzend hinzu.
"Ah, ja doch, wir sind fertig geworden. Jetzt fehlt zwar noch der letzte Feinschliff, aber im Großen und Ganzen bin ich recht zufrieden. Ich brauchte echt Mal einen Tapetenwechsel."
"Falls du das nächste Mal Hilfe brauchst, kannst du dich gerne melden", meinte er daraufhin lächelnd.
"Achtung, sonst komm ich noch darauf zurück!", grinste ich.
"Das klang beinahe nach einer Drohung", lachte Jay auf.
"Wer weiß...", lachte nun auch ich.
"Na ihr zwei! Was gibts denn da zu Lachen?" Hannah kam an den Tisch und musterte erst mich und dann Jay.
"Jetzt warst du aber schnell fertig." Der Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon kurz nach 19 Uhr war. Die Zeit ist tatsächlich recht schnell vergangen.
"Wie ich sehe, hattest du Gesellschaft", stellte sie mit einem Blick auf Jay fest.
"Ich habe dir inzwischen einen Platz besetzt. Dann lasse ich euch Mal", meinte Jay und wollte gerade aufstehen.
"Ach was, bleib doch!" Hannah legte Jay eine Hand auf die Schulter, woraufhin er sich wieder hinsetzte. Dann ging sie zu einem freien Tisch und holte sich einen Stuhl, den sie an den Tisch stellte.
"Ist das okay für dich?", fragte Jay an mich gerichtet. Hannah zwinkerte mir unauffällig zu und ich schüttelte lächelnd den Kopf.
"Klar!", antwortete ich und Jay nickte.
"Dann lasst uns bestellen!"
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30 things to do
Roman d'amourDer einst so offene und lebensfrohe Tim leidet seit der Trennung von seinem Freund unter Sozialer Phobie. Durch seine beste Freundin Hannah erfährt er von der 30-Tage-Challenge. Nachdem er diese zu Beginn wenig ernst nimmt, veranlasst ihn ein Ereign...