#26 Tattoo [Teil 1]

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Dienstag, 31. Oktober – 18:19 Uhr

Früher als erwartet erreichten wir das Five Stars. Im Pub war es noch recht überschaubar, nur wenige Tische waren besetzt. Der Raum war schon passend für das Motto abgedunkelt und dekoriert. An den Wänden und über dem Eingang hingen Spinnennetze, unter die wir uns durch bücken mussten. Auch falsche Spinnen bestückten die Spinnennetze und zierten die Wände und Tische. In den Ecken sowie auf dem Tresen standen Kürbisse, deren Licht den dunklen Raum etwas erhellte. Das restliche Licht war gedimmt und trug zu einer düsteren Stimmung bei. Und wenn ich mich nicht ganz täuschte, entdeckte ich in einem Eck sogar eine kleine Nebelmaschine. Die Leinwand und der Beamer fürs Karaoke wurde gerade noch fertig aufgebaut und im Hintergrund lief leise Musik, die auf den Abend einstimmte.

"Wollt ihr uns inzwischen einen Tisch suchen? Dann kümmere ich mich um unsere Getränke", bot Leo an, sobald wir uns einen Überblick verschafft hatten.

"Klingt gut! Ich habe gehört, es gibt einen speziellen Halloween-Punsch. Mit und ohne Alkohol. Ich hätte gern einen mit Schuss. Und du Tim?"
"Dann nehm ich auch den Punsch, aber mir erstmal einen ohne Alkohol, bitte." Ich hatte noch nichts zu Abend gegessen und wollte nicht riskieren, betrunken eine peinliche Performance abzulegen.
"Alles klar! Bin gleich wieder da."

"Und, wie findest du ihn?", fragte mich meine Freundin, nachdem Leo außer Hörweite war. Sie hakte sich bei mir unter und navigierte mich durch den Raum zu einem freien Tisch in der Ecke des Raumes. Ich nahm direkt neben einem grimmig dreinschauenden Kürbis Platz.

"Viel habe ich noch nicht mit ihm gesprochen, aber er scheint echt nett zu sein. Und er ist hin und weg von dir, das ist auf jeden Fall ein Pluspunkt."
"Findest du?" Hannahs Blick streifte durch den Raum direkt zu Herrn Leopold. Ein verliebtes Lächeln zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. "Ich hoffe so sehr, dass ihr euch gut versteht. Aber sollte das nicht der Fall sein und solltest du Leo schrecklich finden, dann musst du das unbedingt gleich sagen. Du weißt, dass mir deine Meinung viel bedeutet. Ich habe Sorge, dass ich geblendet bin und er vielleicht gar nicht so toll ist, wie ich mir das wünsche. Aber bis jetzt ist er echt super und..."
"Ich würde dir das sagen, wenn ich ihn nicht leiden könnte", unterbrach ich meine Freundin, ehe sie sich noch weiter den Kopf zerbrach. "Aber bis jetzt habe ich wirklich einen guten Eindruck von ihm. Und er kann sogar drei Gläser tragen, ohne etwas zu verschütten." Ich nickte in die Richtung, aus der Leo sich unserem Tisch näherte. "Noch ein Pluspunkt."

"Ha ha!" Hannah rollte mit den Augen.

Leo stellte die Getränke ab und setzte sich neben seine Freundin. Jeder nahm einen neon grün leuchtenden Punsch und wir stießen auf den Abend an.
Der Punsch schmeckte echt lecker und die kleinen Spinnen und Frösche, die darin schwammen, störten beim Trinken kaum. Man musste nur aufpassen, dass man sich nicht daran verschluckte.

Wir plauderten ein bisschen und Leo erzählte mir von seiner Arbeit als Rettungssanitäter. Obwohl ich schon immer Respekt vor Menschen in diesem Beruf hatte, war ich sehr erstaunt, was die Arbeit doch alles mit sich brachte. Ich konnte mir nur vorstellen, wie schwierig es sein musste, zu Unfällen gerufen zu werden und teilweise schwerverletzte Menschen oder Teile von ihnen einzusammeln. Gegen diesen Beruf kam ich mir bei meinem Bürojob doch sehr langweilig vor. Aber Leo schien sehr interessiert zu sein und stellte mir viele Fragen. Er war sogar begeistert, als ich ihm erzählt habe, wie ich meinen Chef überredet habe, auf recyceltem Papier umzusteigen. Ich wusste nicht, ob er nur nett sein wollte, oder ob sein Interesse ehrlich war. So oder so fand ich es toll, dass er nicht nur auf Hannah fokussiert war, sondern es ihm auch wichtig war, mich kennenzulernen.

"Habt ihr auch Hunger?", fragte ich mit knurrendem Magen, kurz bevor der Karaoke-Spaß losgehen sollte.

"Soll ich uns etwas holen?", bot Leo an, aber Hannah winkte ab.

"Nee, lass nur. Diesmal ist Tim an der Reihe", antwortete meine Freundin und zwinkerte mir zu.

Verwirrt starrte ich sie an. "Wir können ja einfach hier bestellen, oder?" Ich war zwar noch nicht oft hier, aber ich glaubte, mich an das Konzept vom Five Stars richtig erinnern zu können.

"Könnte man... Ober aber man bestellt es direkt bei dem netten Barkeeper, der heute zufällig im Restaurant arbeitet."

Diesmal verstand ich, was sie meinte, aber ich stellte mich mit Absicht dumm, um sie zu ärgern. "Oh, ist Jesse heute Abend auch da?"

Dieser Scherz holte mir einen Boxer gegen meine Schulter ein, während Leo ahnungslos zwischen Hannah und mir hin und her schaute.

"Gut, dann gehe ich eben direkt hin und bestell uns was!", gab ich schließlich nach.

Nachdem die Beiden mir ihre Bestellung verraten hatten, machte ich mich auf den Weg ins Restaurant und versuchte dabei, die ganzen Extras von Hannah nicht zu vergessen.

Dort angekommen, sah ich mich nach Jay um und kam mir dabei seltsam vor, da ich dort der einzige war, der ein Halloween Kostüm trug. Also machte ich mich direkt auf den Weg zum Tresen.

"Tim? Wow, nices Kostüm!" Jesse kam zu mir, die Ärmel seines weißen Hemdes wie üblich hochgekrempelt, sodass die Cobra gut sichtbar war. Seine dunklen langen Haare waren zu einem lockeren Man Bun hochgebunden und der mittlerweile etwas dichtere Bart, ließ ihn unglaublich männlich erscheinen.
"Äh, danke. Ich fühl mich nur etwas fehl am Platz", gestand ich und sah mich vielsagend um.

"Quatsch, hier sitzen nur die ganzen Langweiler!" Jesse lachte. "Schade, dass wir uns nicht verkleiden dürfen, habe nämlich ein tolles Captain Jack Sparrow Outfit zu Hause. Aber wir müssen ja für die Gäste als Kellner erkennbar bleiben."

"Schade, das hätte ich gerne gesehen!"

"Tja, vielleicht nächstes Jahr!" Er zwinkerte mir zu und ich musste grinsen.

Irgendwie konnte ich mir Jesse als Captain Jack Sparrow bestens vorstellen. Ich würde sogar behaupten, dass er dafür noch nicht einmal ein Kostüm brauchte.

"Tim!" Jay kam aus dem Raum hinter dem Tresen, in dem ich die Küche vermutete. Er warf Jesse einen kurzen angespannten Blick zu, was diesen zum Gehen veranlasste.

"Wie es aussieht, werde ich hier nicht mehr gebraucht!" Er klopfte auf den Tresen. "Mach's gut Tim! Viel Spaß heute!"

Ich nickte ihm lächelnd zum Abschied zu und spürte dabei Jays Blick auf mir. Erst nachdem Jesse sich daran machte, ein Bier aus dem Zapfhahn laufen zu lassen, schien Jay sich etwas zu entspannen.

"Was machst du denn hier? Ich wollte gleich zu euch runterkommen." Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf.

"Ich wollte uns noch was zum Essen holen, bevor es mit dem Karaoke-Abend losgeht."

"Oh! Dafür hättest du doch nicht extra heraufkommen müssen."

"Vielleicht wollte ich aber auch die Möglichkeit nutzen, dich abzuholen." Schüchtern lächelte ich ihn an. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber Jay lächelte ebenso schüchtern zurück.

"Das darfst du natürlich!" Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und zuckte mit den Schultern. Dadurch spannte sich sein Bizeps unter dem weißen Hemd an und für einen kurzen Moment war ich abgelenkt. Jesse war zwar auch nicht schlecht anzuschauen, aber Jay war einfach... Jay. Seine Anwesenheit machte mich nervös und innerlich ruhig und ausgeglichen gleichermaßen.

"Alles in Ordnung?" Jay zog schmunzelnd eine Augenbraue nach oben und musterte mich.

"Äh, ja... Ich habe nur gerade gedacht, dass es schade ist, dass du nicht verkleidet bist", rettete ich mich hoffentlich unauffällig.

Jay grinste. "Na dann ist ja gut, dass ich ein Kostüm mitgebracht habe! Ich werde mich gleich umziehen."

"Oh, das ist... gut!" Jays Grinsen war unglaublich sexy. Ich sollte das vermutlich nicht denken, da wir nur befreundet waren, aber ich konnte nicht anders. Seine perfekten geraden Zähne, das verschmitzte Funkeln in seinen Augen und die fast unsichtbaren Grübchen brachten mich völlig aus dem Konzept.

"Okay, dann bis gleich!" Bevor ich rot wurde, machte ich mich besser auf den Weg.

"Tim?"

"Ja?"

"Möchtest du mir vielleicht noch die Bestellung sagen? Dann bringe ich gleich alles nach unten."

"Oh, die Bestellung! Ja, stimmt!"

30 things to doWo Geschichten leben. Entdecke jetzt