VII

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Vierter Tag

Ich kann mich nicht an die Geschehnisse aus der Nacht erinnern. Hätte ich diese Aufzeichnungen nicht, wäre ich vermutlich schon längst verrückt. Das Telefon hängt noch an der Wand, unbewegt. Es klingelt nicht. Der Fernseher ist aus und ohne die Notizen würde bezweifeln, dass er jemals an gewesen ist. Ich weiß nicht, ob ich diese Aufzeichnungen lebend beenden werden kann. So wie es jetzt aussieht, geht es mir gut, aber ich bin mir sicher, dass im Verlauf des heutigen Tages wieder Dinge geschehen werden. Es stürmt immer noch.

Den halben Riegel habe ich schon gegessen, aber mein Magen gibt sich nicht damit zufrieden. An meine Zähne habe ich nicht gedacht. Es gibt natürlich eine Zahnbürste, die momentan auf dem Waschbecken liegt. Zahnpasta findet sich in Massen in einem der Regale und es gibt sogar Zahnseide. Aber so lange ich keine Zahnschmerzen habe, darf mich das nicht stören.

Bauchschmerzen habe ich allerdings wieder. Nicht nur des Hungers wegen. Ich halte sie aus, aber weiß, dass ich das nicht ewig tun kann. Ich habe noch etwas mehr als zwei Wasserflaschen, sonst ist meine Situation recht unverändert.

Was ich während der Nacht aufgeschrieben habe, ergibt keinen Sinn. Ich kann mich nur noch bruchstückhaft an den Traum vorletzte Nacht erinnern, aber HERR TOM taucht schon zum zweiten Mal auf. Frank Sinatra auch. Ich werde so oder so darüber nachdenken, auch wenn ich weiß, dass es mich kein Stück weiterbringen wird.
Wie habe ich die letzten Tage hier nur überstanden?


Gleich ist es soweit.


Es ist acht Uhr. Ich weiß nicht, wieso ich das weiß, aber es ergibt Sinn. Natürlich ist es acht Uhr. Die Sonne ist bereits längst am Himmel. Etwas passiert jetzt, etwas muss jetzt passieren.


Die Tür. Jemand hat geklopft. LASS IHN NICHT HEREIN!
Es war ein dreifaches Klopfen.
Tack
Tack
Tack
Die Tür ist aus Holz. Leises Holz. Leise.


Das Telefon. Er ruft mich an, aber ich hebe nicht ab.
Herr Tom
Glaub nicht alles was hier steht.
Ich bin der einzige, der hier steht.


don't you know I'm still standing better than I ever did
GEH ANS TELEFON

looking like a true survivor, feeling like a little kid
GEH ANS TELEFON

I'm still standing after all this time
GEH ANS TELEFON


Ich weiß nicht mehr weiter. Ich verliere die Kontrolle. Das Telefon klingelt. Ich höre Jazz aus dem Fernseher. Ich habe Jazz gemocht. Ich stehe noch. Nicht mehr lange. Ich verliere die Kontrolle. Ich habe sie niemals gehabt. Vielleicht. Draußen hat es aufgehört zu regnen. Ich sehe, wie die Vorratskammer sich verändert. Das Obst beginnt zu schimmeln. Nicht nur das Obst. Das Telefon klingelt. Die meisten Lebensmittel fangen an zu schimmeln. Schimmeln schon längst. Ich bin froh, nicht davon gegessen zu haben. Von links spielt leise Jazz. Ein einziges Lied. Essen ist ohne Belang, wenn Herr Tom anruft.
Ich sollte rangehen. Es ist vielleicht wichtig.
Wie sehen Gesichter aus?

Montag?

Endlich. Nach all der Zeit habe ich die Ecke verlassen. Ich habe mir so viele Gedanken gemacht. Ich hatte so viel Angst. Ich weiß, dass ich mich dazu entschieden habe diesen Ausschnitt aus meinem Leben in schriftlicher Form festzuhalten, falls sich die Dinge ändern werden und die momentane Situation einer besseren weicht. Darauf habe ich allerdings keinen große Hoffnungen mehr, denn er ist noch da. Der Augapfel schwebt weiterhin vor dem Fenster und beobachtet mich. Die blauen Flammen der Hölle scheinen sich auf mich gefreut zu haben.

Ich stehe inmitten des Raums. Ich habe etwas vor, aber weiß nicht mehr was. Der Fernseher läuft noch. Es ist das zweite Programm. Vielleicht habe ich es vergessen auszumachen, bevor ich mich in die Ecke gestellt habe. Wahrscheinlich nicht. Ich muss die Toilette benutzen, ich muss die Wasserflaschen leeren. Ich habe hunger. Vielleicht fange ich heute an, eines der Bücher zu lesen. Ich werde mir etwas gutes zu Essen machen. Vielleicht fange ich heute auch an, dieses Büchlein zu lesen. Ich habe das Geschichtenerzählen schon immer gemocht. Es freut mich, meine eigene erzählt zu haben.


GLAUB NICHT ALLES WAS HIER STEHT


Ich habe das wichtigste erledigt. Das Auge ist noch da. Der Wasserhahn tropft nicht mehr. Vielleicht hat er noch nie getropft. Ich verliere Struktur.
Ich verliere
Ich verliere
Leben
Das Essen hat geschmeckt. Ich habe mir Tomaten gemacht. Ich hätte lieber Fisch gegessen, aber es gibt hier keinen Fisch. Ich hätte lieber gegessen.
Acht
Heute ist nicht Montag, sondern Donnerstag. Heute habe ich herausgefunden, dass der Augapfel noch vor dem Fenster schwebt.
TELEFON
TELEFON
TELEFON
Es fällt mir zunehmend schwerer mich zu konzentrieren. Ich sitze auf dem Bett. Ich hasse das Bett. Es ist nicht groß, aber ich passe hinein. Die schwarz-weiß gezackte Bettdecke liegt neben mir. Das Telefon klingelt immer noch. Es will noch klingeln.
Ich sollte rangehen. Ich will rangehen. Ich habe es schon eine ganze Weile vor. Ich habe die Ecke verlassen, um ranzugehen. Ich bin in seine Falle getappt.


Donnerstag, den 10.2.

Hallo?

Zum Glück habe ich dich erreicht!

Herr Tom?

du musst spazieren gehen, bevor er dich daran hindert

Aber er schaut doch nur zu

ER IST IN DEINEN KOPF!

Ich habe mich vor ihm versteckt

Deshalb rufe ich an
Verlass diesen Raum, oder du oder du verlässt ihn nie!

Aber die Tür-

Du wirst sie öffnen können, sie war nur die ersten Jahre verschlossen
Und schreib dieses Gespräch auf. Wort für Wort, selbst das hier
Du wirst Dinge vergessen, wenn du spazieren gehst
Du wirst deine Aufzeichnungen noch brauchen
Aber glaub nicht alles, was dort steht!


Ich stehe vor der Tür. Gerade eben habe ich mein Essen erbrochen. Die Tomate war schlecht, wie alles hier schlecht ist. Außer vielleicht die Nudeln.
Ich kann mich nur noch bruchstückhaft an das Telefonat erinnern, obwohl es vielleicht zehn Minuten her ist. Der Augapfel schwebt vor dem Fenster. Er sieht mich weiter an. Ich habe über ihn gesprochen, mit Herrn Tom, das weiß ich. Ich habe einiges aus meinen Aufzeichnungen gelesen und ich bin mir mittlerweile sicher, den Verstand verloren zu haben. Vielleicht liege ich im Koma. Es wäre eine schöne Metapher, für das Koma. Ich sollte eine Geschichte darüber schreiben, falls ich aufwache. Heute ist der zehnte Februar. Ein Donnerstag. Heute ist sehr viel passiert, dass mich an allem hat zweifeln lassen.

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