VIII

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Nacht

Schlaf. Ich muss schlafen. Will schlafen.
Ich stehe noch da. Das Bett lacht. Es ist aus Holz.
Lautes Holz.
Gehweg
Ich verliere Struktur
Willen
Willen
Ich muss gehen Ich muss gehen Ich muss gehen Ich muss gehen
SPAZIEREN

Ich bin aufgewacht.
Verlass diesen Raum, sonst wirst du ihn nie verlassen!
Ich habe geschlafen. Habe geschlafen.
Ich liebe das Bett. Es ist laut. In meinem Ko-pf.
Die Zeit vergeht. Ich komme hier nicht weg. Ich komme hier nicht raus. Er hält mich fest.
In meinem Ko-pf
S C H L A F

Sie war nur die ersten Jahre verschlossen. Wie viele Jahre bin ich hier?
Ich bleibe stehen. Ich werde bleiben. Muss bleiben.
Läuft dein Fernseher?
Natürlich nicht, denn er hat es geschafft. ER hat es geschafft. ER mit dem blauen Auge. Ol' Blue Eye
Aber ich muss gehen. Die Vier ist tot. Es wird nie wieder Vier Uhr sein, nicht in diesem Raum. Es ist Drei Uhr dreißig. Drei Uhr Drei-ßig. Höchste Zeit zu gehen. Endlich!
Mein Ko-pf macht das nicht mit. Ich bin schon lange verrückt. Wer bin ich?

4:00Uhr

Ein Gang, der sich links und rechts erstreckt. Vielleicht siebzig Meter, vielleicht mehr. An der Decke ist Licht. Ich habe so lange keine Kronleuchter mehr gesehen. Roter Teppich auf dem Boden. Die Wände haben eine warme Farbe, sogar Tapete. Ich sitze auf dem Boden, an die geschlossene Tür gelehnt. An der gegenüberliegenden Wand steht ein kleiner Holztisch. Es ist leises Holz. Darauf liegen zwei Arten von Flyern. Der Gang erinnert mich an Hotels, denn links und rechts von mir erstrecken sich weitere Zimmertüren. Alle Türen scheinen Nummern zu haben. Meine ist die 2201. Ich weiß nicht wieso, aber es ist auch belanglos. Alle Türen haben einen Türspion, von dem ich innerhalb des Zimmers nicht das geringste gesehen habe. Er funktioniert andersherum und bietet einem, den perfekten Blick in den Raum.
Ich sollte aufstehen und mich weiter umsehen. Es ist das erste Mal, dass ich diesen Raum tatsächlich verlassen habe. Ob das Auge noch dort ist? Vielleicht ist es tot. Vielleicht sollte ich nachsehen. Irgendwann.

Der eine Flyer ist blau. Man kann ihn aufklappen, sodass man vier doppelt bedruckte Seiten erhält. In schwarzen Schriftzeichen stehen dort Worte, die ich nicht lesen kann. Eine Abbildung auf der ersten Seite zeigt je die Vor- und Rückansicht zweier nackter Menschen, einer Frau und einem Mann, die starr dastehen. Mehrere beschriftete Pfeile scheinen den Aufbau des Menschlichen Körpers zu erklären. Beide Personen haben dunkelbraune Haare und braune Augen. Auf der zweiten Seite des Flyers ist die Vor- und Rückansicht zweier Skelette zu sehen, natürlich genauso beschriftet. Es erinnert mich an jene Biologiebücher, die Kindern ihren eigenen Körper erklären. Ich glaube nicht, dass es sich bei der Schrift um eine menschliche Sprache handelt und das beunruhigt mich. Ich wäre lieber aus einem Koma aufgewacht, als das zu sehen.

Ich bekomme eine Gänsehaut, denn auf der dritten Seite ist eine Übersicht aller Muskeln, wahrscheinlich anhand der selben Menschen aus der ersten Seite, nur ist es keine Zeichnung, sondern ein echtes Foto. Jemand hat diese Menschen so präpariert, dass jeder feinste Muskel klinisch sauber zu erkennen ist. Mir fällt jetzt erst auf, dass ebenfalls die Skelette die echten Skelette der beiden sind. Die Knochen wurden so auf Hochglanz gereinigt, dass sie einem animierten Bild zum Täuschen ähnlich sehen.

Die vierte und fünfte Seite zeigt eine Reihe an Lebensmitteln, jeweils mit einer Kurzbeschreibung. Ich weiß es zwar nicht zu einhundert Prozent, dennoch bin ich mir sicher, dass es genau die Lebensmittel sind, die ich in der Vorratskammer finden würde. Die meisten von ihnen sind bereits schlecht.
Auf der sechsten Seite sehe ich ein Foto, das die Verdauung des Menschen darstellen soll. Es zeigt die notwendigen Organe, an ihren Plätzen angeordnet und beschriftet, nur ohne dazugehörigen Körper. Sie sind allesamt echt und wahrscheinlich von einem der beiden Menschen, die bereits herhalten mussten. Eine Mundhöhle so detailliert und perfekt zusammengesetzt zu sehen, ist abartig und faszinierend zugleich. Jemand hat die Organe mit Hingabe, vielleicht sogar Liebe, so originalgetreu hergerichtet.

Seite Sieben hat nur ein Bild in der oberen linken Ecke, darauf abgebildet sind Tom und Jerry. Der Rest besteht aus schwarzem Text auf blauem Untergrund. Gelegentlich sind auch Zahlen zu sehen, darunter das Jahr 1940. Auch die letzte Seite hat viel unverständlichen Text. Es sind die Bilder von einigen Musikikonen abgebildet, darunter Frank Sinatra, Michael Jackson und Elton John, aber auch Bruce Springsteen und Ray Charles. Mir wird übel. Dieser Flyer beschreibt den Menschen und seine Eigenschaften. Es erinnert mich an Infotafeln in Tierparks. So, als könnten sich die nicht-menschlichen Besucher einen Eindruck von uns machen. Ein solcher Holztisch mit den gleichen Flyern wie dieser hier steht auch vor jeder anderen Tür im Gang. Die Türen selbst sind versetzt angeordnet, sodass sich zwei Türen nie direkt gegenüber stehen.
Der zweite Flyer ist gelb und die gedruckten Sätze und Wörter sind in einer menschlichen Sprache verfasst, sodass ich sie lesen kann. Darauf steht:

An den Gast aus Zimmer: 2201 (es wurde mit Tinte auf eine gestrichelte Linie geschrieben)
Wenn sie diese Nachricht lesen, haben sie ihren dreiwöchigen Aufenthalt bei uns erfolgreich beendet. Wir danken ihnen, für ihre Kooperation und die Teilnahme an Experiment 4.4. Ihre Prämie liegt in der Lobby des Gebäudes, im Schließfach mit ihrer Zimmernummer.
Der Code zu diesem Schließfach lautet: 01001011 (Wieder auf ein extra dafür freigelassenes Feld geschrieben)
Sollten sie irgendwelche Beschwerden haben, melden sie sich bitte bei uns. Wir hoffen ihnen hat dieser Aufenthalt nicht zu sehr zugesetzt.
Für physische Schäden kommt die W&J GmbH&Co.KG nicht auf.

Und darunter stand ein Datum. Endlich. Es ist nur eine Jahreszahl, aber die genügt bereits. 2098. Es ist das Jahr 2098. Vielleicht ist es das.
Auf dem Flyer steht zwar dreiwöchiger Aufenthalt, allerdings meinte HERR TOM: sie war nur die ersten Jahre verschlossen. Jahre. Ich weiß nicht, was die Wahrheit ist.

Die Rückseite des Flyers zeigt einen Aufruf zu Experiment 4.5, am zehnten Oktober des Jahres 2099. Worum es sich handelt wird nicht gesagt. Man sieht lächelnde Menschen, die ein Daumen Hoch in die Kamera halten. Darunter sind auch die beiden von dem ersten Flyer und drei weitere junge Erwachsene. Die Schrift ist Farbenfroh und die Rückseite bunt gestaltet. Es erinnert mich an Werbung für Zirkusvorstellungen. Der Spruch „WEIL DIE ZEIT KNAPP IST!" prangt in großen Buchstaben auf dem Papier. Man kann viele einfache Formen, wie Kreise und Dreiecke am Rand erkennen, die dem ganzen ein noch kindlicheres Aussehen verleihen. Ganz unten stehen verschiedene Logos, keines von ihnen kommt mir bekannt vor. Die W&J GmbH&Co.KG ist allerdings mit dabei.
Ich habe mir einen der gelben Flyer von meinem Tisch genommen und mache mich auf den Weg nach links, wo ich ein Treppenhaus am Ende des Ganges sehen kann. Ich will mich auf den Weg machen. Morgen. Ich muss erst einmal schlafen. Hier inmitten des Gangs.

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