12 - Unerwarteter Besuch

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„Wenn sich das Tor des Glücks schließt, öffnet sich ein anderes."

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Der Tee in meiner Tasse kringelte sich.

Ich betrachtete die goldene Flüssigkeit schon seit einer Weile. Eine merkwürdige Mischung aus Sehnsucht und Heimweh hatte sich in mir breit gemacht. Der Tee war längst erkaltet, aber die Farbe hatte mich so sehr an Zahirs Augen erinnert, dass mir ein Stechen durch die Brust gefahren war und ich nun auf das Getränk starrte, als könnte es mit mir sprechen.

Das Geräusch der knarrenden Eingangstür liess mich zusammenfahren.

„Ich bin wieder da!", kündigte Sitty ihre Ankunft an. „Und ich habe eine Überraschung für dich!"

Sie war guter Laune, schon seit Tagen, weil sie mit allen Mitteln versuchte, mein finsteres Gemüt aufzuhellen.

Doch weder das reinigende Bad in der Messingwanne, welches sie mir aufgegossen hatte, damit ich mich einseifen und die Spuren meines Angreifers von meiner Haut waschen konnte, noch die vier Tage danach voller Ruhe, an welchen sie mir meine Lieblingsgerichte gekocht hatte und ich mich schweigend ans Fenster in der Stube setzen durfte, um den Innenhof zu betrachten, hatten zu einer Besserung geführt.

Ich konnte nicht aus dem Haus, denn es war zu gefährlich.

Ismail lauerte dort draussen und ich wollte mir nicht vorstellen, was er mit mir tun würde, wenn er meinen Aufenthaltsort herausfand. Grün und blau prügeln wäre wahrscheinlich nur der Anfang.

Sitty hatte beschlossen, dass ich während mindestens vierzehn Tage das Haus nicht verlassen durfte — bis meine Wunden verheilt waren und mein Angreifer von Kesh fortgegangen war. Eine elend lange Zeit, in welcher mich nichts von der Einsamkeit in meinem Herzen ablenken konnte.

Meine Grossmutter trat in die Stube und sah, wie ich an meinem üblichen Platz auf dem Teppich hockte und in die Ferne blickte.

Obwohl unser Innenhof ummauert war und man nicht wirklich weit sehen konnte, wanderte mein Geist über diese Mauern hinaus, flog durch die Wüste, durch die Zeit nach Azoul und den Palast, den ich mein Zuhause genannt hatte. Meine Seele wollte nicht hier sein, genauso wenig mein Herz. Allein mein Körper war hier, wie die vertrocknete Haut einer Schlange, die sich längst vom Leben gelöst hatte und allmählich zerfiel.

Zwei schwere Gegenstände plumpsten vor meine Füsse und sorgten dafür, dass ich den Blick vom Fenster löste.

„Ich habe lange gebraucht, um sie auszusuchen. Ich hoffe, sie gefallen dir." Meine Grossmutter deutete mit der Hand auf den Boden

Bücher.

Sie hatte mir Bücher aus der Bibliothek gebracht.

Die ledernen Buchdeckel und die goldenen Titel schimmerten im Licht der Sonne. Vor nicht allzu langer Zeit hätte mich dieser Anblick in helle Freude versetzt. Nur nicht jetzt.

Jetzt fühlte ich nichts.

Ich wandte den Blick ab, denn zwischen den geglätteten Papyrusblättern und den in schwarzer Tinte gekritzelten Zeilen konnte ich keine Zuflucht mehr finden.

„Ich will nicht lesen."

„Bücher können die Seele heilen", erwiderte Sitty.

Ein leises Schnauben entwich mir aus der Nase. Das hatten sie einst mit mir getan. Als ich dachte, ich fände darin die Antworten auf meine Fragen. Doch sie hatten nur mehr Fragen aufgeworfen. Und als ich hinaus in die Welt trat — in die echte, unverfälschte Welt —, da hatte ich am eigenen Leib erfahren, dass nichts so war, wie ich gelesen hatte.

Zwischen Wunsch und WirklichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt