„Wer der Geduld folgt, dem folgt der Sieg."
☆☆☆
AMELIA
✶ 24 Sternzyklen später ✶
„Willst du mir jetzt bitte verraten, was wir hier machen", bat Amelias Vater um Erklärung.
Seine Geduld war am Ende und das lag mit grosser Wahrscheinlichkeit daran, dass sie ihn auf die höchste Düne von Kesh getrieben hatte. Er stand schwer atmend neben ihr und schien von der sagenhaften Aussicht, die man von der Goldenen Kuppe aus auf die Abendlichter der Handelsstadt und auf die Wüste hatte, nicht sonderlich beeindruckt.
„Heute ist eine besondere Nacht", hauchte sie und legte den Kopf in den schillernden Nachthimmel, dessen Lichter von den wenigen Fackeln Keshs nicht gedämmt werden konnten.
Die Sterne glitzerten über ihnen in freudiger Erwartung.
„Amelia", mahnte Araf mit dem üblichen Vorwurf in der Stimme.
Seufzend richtete sie ihren Blick wieder auf das angegraute Gesicht ihres Vaters. „Wir sind hier, Baba, weil wir auf jemanden warten müssen."
Ihr Vater runzelte die Stirn, während er sich umblickte. Weit und breit war kein anderer Mensch auf dieser Düne. Verständlich, denn sie zu erklimmen kostete manchen so viel Kraft, dass sie auf halbem Weg aufgeben mussten. Nur wenige schafften es bis nach oben.
„Auf wen denn bitte?"
Es juckte Amelia in den Fingerspitzen. So viele Sternzyklen lang hatte sie geduldig sein müssen, hatte niemandem dieses riesengrosse Geheimnis verraten dürfen, denn schliesslich war es nicht gewährt, dass es klappen würde. Aber beim weissen Dschinn und seiner Herrlichkeit, es hatte ihr so unter der Zungenspitze gekitzelt!
Wie oft war sie drauf und dran gewesen, ihren Vater einzuweihen? Einfach, weil er von Anfang an mit dabei gewesen war und für die Magie mindestens genauso sehr brannte wie Amelia selbst.
Amelia holte tief Luft, als sie ihm antwortete: „Auf die Wüstenrose."
Ihr Vater wurde still und starr.
Amelia liess ihre Hand in die Ledertasche gleiten, die sie um ihre Schulter trug. Während sie sich das Grinsen verkniff, kam der uralte Zettel zum Vorschein. Ein Zettel mit einem dunkelroten Siegel, mehrfach gefaltet und entfaltet, hunderttausend Mal gelesen, die Tinte darauf schon beinahe verblasst, aber die Botschaft so klar wie Glas.
„Woher hast du ...?" Ihr Vater trat näher. Seine Augen hefteten sich auf den Umschlag in ihren Fingern. „Was für ein Brief ist das?"
Amelia grinste ihren Vater an. „Meiner."
Die Verwirrung war ihm ins Gesicht geschrieben. „Deiner?"
Sie nickte. „Ich habe den Umschlag in meinem Lieblingsbuch gefunden. Das Buch von Ibn Ali, das ich euch damals für eure Schatzkammer-Recherchen gegeben habe." Amelia musste schmunzeln. „Erinnerst du dich?"
Ihrem Vater stand der Mund offen und als sie ihm den Brief hinstreckte und ihm die An- und Handschrift zeigte, da wurden seine Augen richtig gross.
An Prinzessin Amelia, Tochter von Araf Tall-Qubar, dem einzigen Nachfahren des Sultans des ewigen Sandes
Ihr Vater hielt die Luft an. „Tatsächlich!", stiess er aus.
Seine Hände bebten, als er die Finger nach dem Brief ausstreckte, sich aber nicht traute, das Papyrus zu berühren. Amelia reichte ihm den Zettel, räusperte sich und las den Inhalt für ihn vor. Sie musste nicht hinsehen, denn sie kannte alle Zeilen auswendig.
Amelia,
Du hast bestimmt schon von den Briefen gehört, die dein Vater vom Orden der Wüstenrose bekommen hat. Nun denn, das hier ist deiner. Bitte lese jede Zeile sehr sorgfältig durch und hüte diesen Brief wie das grösste Geheimnis deines Lebens.
Der Orden der Wüstenrose bittet dich um folgende zwei Dinge:
Übergebe das Buch, in welchem du diesen Umschlag gefunden hast, an deinen Vater und an mich. Wir werden es sehr zu schätzen wissen.
Erklimme in der Nacht, wenn Shihab über den Himmel zieht, die Goldene Kuppe von Kesh und warte dort auf den letzten Wunsch.
Du spielst im Tanz der Zeit eine unfassbar wichtige Rolle, Amelia, und ich vertraue darauf, dass du deine zwei Aufgaben meistern wirst. Gemeinsam werden wir die Kraft des weissen Dschinns wieder aufblühen lassen. Alles, was es dafür braucht, ist viel Geduld und etwas Zeit.
Ich wünsche mir, dass wir uns bald wiedersehen.
Deine Wüstenrose
Ihr Vater begann laut zu lachen und griff sich an den Kopf. „Nein!", stiess er dabei aus. „Das ist unglaublich! Wenn Nour das erfährt, dann wird sie vom Stuhl fallen. Einen weiteren Brief ihrer Enkelin!"
Beim Gedanken an ihre Mentorin und Ausbildnerin fühlte Amelia das Glück in ihr Herz strömen. Nour Beduni war so alt wie ein Stein, aber so lebendig wie ein Löwenjunges.
„Lies die zweite Aufgabe nochmal durch, Baba", sagte Amelia und deutete mit dem Zeigefinger auf die Zeilen. Es war nicht der Brief an sich, der unglaublich war, sondern die Botschaft darin und die hatte er offensichtlich überhört. „Lies ihn ganz genau."
Ihr Vater hob den Brief an sein Gesicht, denn er hatte seine Lupenbrille nicht dabei und kniff die Augen zusammen.
„Da steht, du sollst auf die Goldene Kuppe steigen", las er vor.
„Genau. Das sind wir."
„Bis Shihab sich am Himmel zeigt."
Amelia hob den Blick in die Nachtkuppel und sah ihn. Der riesige Schweifstern, der seinen Sternenstaub wie eine glitzernde Schleppe hinter sich herzog.
„Da ist er ja schon!", sagte sie und fokussierte sich dann wieder auf ihren Vater. Ihr Herz begann aufgeregt zu poltern. „Und was steht da noch?"
„Dass du auf den letzten Wunsch warten sollst."
Amelia grinste breit, doch ihr Vater schien es wieder einmal nicht schnell genug verstanden zu haben. Seine Stirn kräuselte sich. „Welchen letzten Wunsch?", dachte er laut nach. „Ich verstehe nicht ..."
„Lies alle Zeilen sehr genau, Baba."
Er las die zweite Aufgabe erneut vor, dann die erste und dann ging er den ganzen Brief nochmal durch. Als er an der richtigen Stelle angekommen war, riss er den Kopf hoch, die Augen geweitet.
„Nein!"
„Ich wünsche mir, dass wir uns bald wiedersehen", zitierte Amelia die Worte der ersten Wüstenrose des Ordens, der die Magie vor ihrem Untergang gerettet hatte. Die Worte, welche seine Gründerin vor dreihundert Sternzyklen an sie geschrieben hatte.
Der letzte Wunsch der hellsten Sternenseherin aller Zeiten.
Amelias Vater war bleich geworden. „Oh, beim Sultan, wenn das wahr ist, dann—"
Weiter kam er nicht, denn in selbem Moment begann die Luft vor Magie zu surren. Shihabs Licht leuchtete über ihren Köpfen, hell und strahlend wie ein Bote, der ihre Ankunft verkündete. Und als sich vor ihnen plötzlich dunkle Silhouetten aus dem Sand, dem Sternenlicht und der Luft formten, da war sich Amelia sicher, dass es funktioniert hatte.
Die Sternenseherin war zurück und sie war nicht alleine.
☆☆☆ ENDE ☆☆☆
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Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Fantastik☆ Band II ☆ Gefangen in ihrer Zeit ergibt sich Najmah dem Schicksal, das sie seit Beginn ihrer Abenteuerreise erwartet hatte: Ein Leben ohne Magie, in welchem sie die treue Frau eines Nomaden wird. Die Rückkehr in den Palast von Azoul und in ihr Leb...