35 - Das Gesicht der Finsternis

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„Die Finsternis wird nicht offenbar, außer wenn das Licht gelöscht wird."

☆☆☆

Ich konnte nicht im Zelt zurückbleiben.

Irgendwas stimmte gewaltig nicht mit Zafar. Ich hatte Zahir die Angst um seinen Bruder angesehen. Ich konnte nicht einfach tatenlos dastehen, ich musste etwas tun. Zafar war schliesslich mein Schwager. Sein Wohl lag mir genauso am Herzen, wie jenes seiner Geschwister.

Dementsprechend zog ich mir meine frisch gewaschenen Kleider über und eilte zum Lazarett. Ein Gefühl trieb mich an. Eins, das ich nicht erklären konnte.

Mehrere Krieger standen in ihren blauen Uniformen vor den Zelten der Krankenstation versammelt, ihre Augen geweitet und ihre Haut wächsern, als hätte sie ein Dämon zu Tode erschreckt. Zeit, um darüber nachzudenken, hatte ich keine, denn plötzlich zerschnitt ein gellender Schrei die Luft. Die Männer zogen ihre Köpfe ein und machten sich schleunigst davon. Ich hingegen schlüpfte ins Zelt, aus welchem der Lärm gekommen war.

Eine wilde Rauferei empfing mich.

Drei Muzedin, darunter Karim, Zahir und ein Dritter, den ich nicht kannte, rangen mit Zafar. Dieser kniete am Boden und schlug mit den Fäusten auf einen leblosen Mann ein, der unter ihm lag. Zwei Mal krachten seine Knöchel noch auf den Schädel, bis er endlich von seinem Opfer gezerrt wurde.

Der Kerl am Boden war ein Wundheiler — so viel verriet mir seine helle Kleidung. Sein Gesicht war nicht mehr wiederzuerkennen, sondern bloss noch eine Mischung aus Blut, Schleim und Beulen.

Mir blieb vor Schreck die Luft im Hals stecken.

Was war nur in Zafar gefahren, einen wehrlosen Menschen dermassen herzurichten?

Zwei Wundheiler, die sich offenbar hinter einer Pritsche verkrochen hatten, kamen dem Bewusstlosen zur Hilfe und zogen ihn an den Armen davon. Sie hinterliessen eine blutige Spur aus dem Zelt.

Ich war mir nicht sicher, ob der Verletzte noch lebte.

„Lasst mich!"

Zafars Stimme glich dem Brüllen eines Löwen. Tief und gewaltig und so laut, dass die ganze Wüste seinen Zorn gehört haben musste. Jedoch waren es seine Augen, die mich in meinem Kern erschütterten.

Seine Augäpfel waren so schwarz wie die Nacht. Kein Weiss, kein edles Dunkelgold, kein lebendiges Funkeln war darin mehr zu sehen. Keine Spur des unwirschen Sandlesers mit dem warmen Kern. Nichts. Nur alles verschlingende Finsternis.

Zafar fauchte und zischte, während Karim und Zahir ihn an den Armen festhielten.

Das hier war ein Monster, eine Abart der Natur, ein Dämon geschaffen aus dem Abgrund der Dunkelheit und aus der Grässlichkeit des Krieges. Wut und Hass und Verzweiflung in ihrer reinsten, verkörperlichten Form: Gewalt.

Zafars Turban hing ihm schief von der Nase, sodass ich halbseitig seine Lippen und die gefletschten Zähne sehen konnte.

Er wehrte sich gegen seine drei Kontrahenten und verabreichte dem dritten Kerl, der ihn vorne hielt, eine Kopfnuss, die so heftig war, dass der Typ sofort in sich zusammensackte. Zafars Augenbraue platzte dabei auf, allerdings schien ihn das nicht zu stören. Er spürte sich nicht mehr.

„Hör auf damit!", forderte Zahir, der offenbar alle Kraft aufwenden musste, um ihn im Zaum zu halten.

In einer energischen Bewegung schaffte es Zafar, sich aus dem Klammergriff der beiden zu wringen. Er packte Zahir am Kragen.

„Ihr macht mich alle krank!", schrie er meinem Sandleser ins Gesicht. „Du von allen am meisten!"

Zafar hob seine blutige Faust, doch ehe er Zahir ein Haar krümmen konnte, intervenierte Karim mit seiner Magie. Wurzeln schossen aus dem Boden und rankten in Windeseile Zafars Beine hoch, schnappten sich seine Handgelenke und mit einem knarzenden Geräusch spannten sie sich so stark an, dass Zafar seinen Bruder loslassen musste.

Zwischen Wunsch und WirklichkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt