„Auf Sand geschrieben ist, was du im Alter noch erlernst; in Stein graviert, was du in der Jugend gelernt hast."
☆☆☆
Nie hätte ich gedacht, dass mich das Ende eines Buches dermassen mitnehmen würde.
Ich starrte mit Tränen in den Augen auf die Seiten.
Es tat unfassbar weh, von der fürchterlichen Zerstörung Azouls zu lesen. Die Nachwirkungen von Hamzas Verbrechen waren tiefreichend: Von den Wüstenprinzen, die genötigt worden waren, ihrem ältesten Bruder einen Treueeid zu schwören, den Sandlesern, die aus der Gefängniszelle in den Militärdienst gezwungen worden waren, bis zu Amelas Versuch, ihre Brüder in dem ganzen Chaos zusammenzuhalten — der Feldmarschall hatte seine Familie erfolgreich gespalten.
Mein Herz wog unendlich schwer, doch es war der letzte Abschnitt des Buches, welcher mich gänzlich zerriss:
Mit grossem Bedauern und tiefer Ergriffenheit werden diese letzten Zeilen niedergeschrieben: Der Sultan des ewigen Sandes, Azhar Tall-Qubar ad Milla, mächtigster Schattenbringer und grösster Wüstenherrscher aller Zeiten ist tot. Möge sein Geist für immer im warmen Sand Azouls ruhen.
„Nein!", stiess ich aus. „Nein, das darf nicht wahr sein!"
Sitty hob die Nase aus ihrem Buch und blickte mich an. Sie hatte Kerzen für uns angezündet und sich mit einem Roman zu mir gesetzt.
„Bist du an einer spannenden Stelle angelangt?", wollte sie wissen.
Meine Kehle verschnürte sich, während ich immer und immer wieder über die Sätze flog. Er war dem Einsturz des Palastes zum Opfer gefallen. Das Erdbeben hatte dem Sultan sein Leben gekostet. Sein Leben.
„Najmah? Fühlst du dich nicht gut?"
Der schwarze Dschinn hatte uns gewarnt. Wer sich gegen den Willen der Zeit auflehnte, der würde bitter dafür bezahlen müssen. Kälte zog über meinen Rücken, als stünde ich nochmals in der Zisterne des Palastes und als lecke der Dämon über meine Handfläche.
Zahir würde niemals mit dieser Verantwortung leben können. Ich kannte ihn. Er wollte Menschen helfen und wenn sie wegen ihm zu Schaden kamen, dann nagte das an seiner ganzen Substanz. Aber das hier — der Tod seines eigenen Vaters — das würde ihn vernichten. Die Qualen seines Herzens mussten grenzenlos sein.
„Du bist bleich", hörte ich Sitty sagen. Sie lehnte sich vor und zog mir das Buch aus den Händen. Verwirrt blinzelte ich sie an. „Ich glaube, dass du mit dem Lesen aufhören solltest. Diese Bücher sind nicht gut für dich."
Sie legte das Werk zur Seite.
Ich schüttelte den Kopf. Zahir hatte all das nur wegen mir getan. Die Menschen Azouls und der Sultan waren gestorben, weil er mich retten wollte. Er hatte mich zurückgeschickt und damit seine Welt, sein Zuhause, seine Familie zerstört.
Es war alles meine Schuld.
Meine Finger zitterten, als ich meine Hand zum zweiten Buch von Adil ausstreckte.
„Nein, Sitty", sagte ich mit brüchiger Stimme. „Ich muss wissen, wie es weitergegangen ist."
Es war meine Pflicht. Ich musste Sühne leisten für dieses schreckliche Schicksal, welches die Sultansfamilie wegen mir befallen hatte. Das zweite Werk von Adil — Die grosse Schlacht — lag schwer in meiner Hand, als ich es zu mir nahm und es auf der zweiten Seite aufschlug.
„Bevor du davon Albträume kriegst, solltest du aber aufhören", mahnte mich Sitty.
Ich hörte nicht mehr hin. Der Wissensdurst und die Panik flossen gleichzeitig durch mich hindurch wie ein reissender Strom, der nicht mehr aufgehalten werden konnte.
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Zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Fantasy☆ Band II ☆ Gefangen in ihrer Zeit ergibt sich Najmah dem Schicksal, das sie seit Beginn ihrer Abenteuerreise erwartet hatte: Ein Leben ohne Magie, in welchem sie die treue Frau eines Nomaden wird. Die Rückkehr in den Palast von Azoul und in ihr Leb...