Kapitel 7

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Kapitel 7

Mr. Noyan wurde, bevor er mich entließ, von jemandem angerufen. Ich war wirklich sehr erleichtert. Aber dann stand auf einmal Custos vor der Tür, als hätte er gelauscht oder gewartet. Meine Erleichterung verwandelte sich in Entsetzen, doch dann fuhr ich nach Hause. Bis zum Einbruch der Dunkelheit musste ich meine Hausaufgaben erledigen.
Jetzt liege ich auf meinem Bett und starre die Decke an. Elfe Nina erscheint nicht, was aber nicht bedeutet, dass ich ihre Anwesenheit nicht spüren würde.
Igendwie ist das alles komisch. Ich kann Fabelwesen sehen und sogar mit ihnen sprechen. Mr. Noyan und Custos redeten beide von Macht und einer Hoffnung der Bewohner. Elfe Nina meinte, ich kann ein gewisses Imperium retten, sobald ich 17 geworden bin.
So, wie ich das verstanden habe, herrscht Mr. Noyan wahrscheinlich über dieses Imperium und die Bewohner sind damit unzufrieden. Ich bin ihre letzte Hoffnung um womöglich besser zu herrschen.
Aber über welches Imperium herrscht Mr. Noyan? Warum sieht Elfe Nina wie Mom aus? Warum verschwindet sie, wenn man ihr Fragen stellt? Warum weiß Custos darüber Bescheid? Warum soll ich herrschen? Ich will das gar nicht! Wer war vor Mr. Noyan Herrscher?
Es muss eine Antwort geben und ich wünschte, ich hätte sie, aber ich habe sie nicht. Noch nicht. Wen könnte ich fragen? Elfe Nina schon einmal nicht. Mr. Noyan ist mir zu fies. Mit Custos möchte ich das nicht besprechen. Vielleicht weiß Dad etwas darüber. Aber der sagte, er sei auf einer Geschäftsreise.
Über all diese Gedanken schlafe ich letztlich ein.

Es ist Vollmond. Regen prasselt auf die schlammige Erde. Eine Menge aus Werwölfen und Elfen sind auf einer Lichtung im Wald versammelt. Einer der Wölfe steht auf einem hohen Stein und spricht zu seinem Volk: ,,Liebe Bürger des Imperiums. Hiermit möchte ich euch die neuen Stadthalter verkünden. Senarus, du bist für See bestimmt. Ab sofort heißt du Oculus. Für Gustus ist Ferdolus bestimmt. Dein künftiger Name lautet Lingua. Über Sentire wacht Gesoldos, jetzt Cor. In Audire bleibt weiterhin Auris. Und in Reach herrscht Wulderis. Du heißt jetzt Odor." Damit steigt der Werwolf von dem Stein hinunter. Doch das Volk jubelt nicht. Es ist von der Entscheidung des Alphas erschüttert. Nur Lingua, Cor, Auris, Oculus und Odor freuen sich wie wild.
Der Vollmond verschwindet hinter den Wolken. Werwölfe nehmen ihre Menschliche Gestalt an. Unter ihnen steht der einsame, verschlossene und traurige Custos. Der Werwolf, der vorher auf dem Stein stand verwandelt sich in Mr. Noyan. Justus grinst gehässig vor sich hin und Mona macht es ihm gleich. Elfen - Elfe Nina ist nicht dabei - schwirren durch die Luft. Sie reden so aufgeregt durcheinander, sodass man nur vereinzelte Wörter wie Verrat, Misshandlung und Freiheitsverlust versteht.
Nun gehen oder fliegen die einzelnen Kreaturen wieder ihren Weg. Das heißt, sie teilen sich in fünf Ströme auf. Am Anfang stehen die neuen Stadthalter. Die Stimmung unter dem Volk ist allgemein sehr spannungsgeladenen, wütend, traurig.

Verschwitzt wache ich aus meinem Albtraum auf. Zunächst muss ich realisieren, wo ich bin. In Deutschland. Im Harz. In Wernigerode. Irgendwo im Nirgendwo. So weit weg von Mom und doch so nah. Ich denke daran, wen ich hinterlassen musste. Aicha. Ich frage mich, ob sie nun endlich einen Freund hat. Ich wünsche es ihr so sehr. Unser altes Haus. Ist schon jemand neues eingezogen? Das Grab meiner Mom. Ich hoffe, jemand gibt ihr immer neue Blumen. Möglichst keine Tulpen. Die mochte sie nicht.
Ein Blick aus dem Fenster und ich erschrecke. Da in dem Wald war eine Bewegung. Vielleicht ein Mensch. Aber ich kann mir nicht sicher sein, ich glaube mittlerweile an diese Fabelwesen. Ich kann mir allerdings nicht erklären, warum dieser Schatten dort war.
Mein Handy vibriert. Lilli. Sie hat mir ihre Handynummer gegeben und ich ihr meine.

Guten Morgen, Aysu!
Ich hoffe du hast unsere Verabredung heute nachmittag um 2 am Eisladen noch nicht vergessen ;)
Bis später! Lilli

Oje. Das hatte ich wirklich über meine ganzen anderen, verrückten Gedanken vergessen. Die Uhr zeigt noch 8:15 Uhr. Ich habe noch knappe fünf Stunden, um mich darauf vorzubereiten.
Ich esse also - allein, Dad ist schließlich weg - Frühstück und danach gehe ich duschen. Jetzt habe ich noch vier Stunden. Ich nehme mir ein Blatt Papier und beginne den Sonnenuntergang aus dem Flugzeug zu zeichnen. Währenddessen fällt mir mein Traum wieder ein. Zwar sind es nur bröckelnde Erinnerungen, jedoch weiß ich, dass Mr. Noyan etwas zu dem Imperium gesagt hatte und danach waren die Kreaturen - ich nehme an, sie bildeten das Volk - sehr betrübt, traurig, wütend, aufgebracht. In diesem Traum hatte ich auch Custos, Justus und Mona gesehen. Was haben sie damit zu tun? Warum war das Volk so traurig? Ist Mr. Noyan wirklich ein Werwolf? Was sind dann Justus, Custos und Mona?
Ist der Traum überhaupt wahr?

Mittlerweile ist wieder eine Stunde vergangen und meine Zeichnung ist fertig. Ich hänge sie an meine Pinnwand, die Dad mir erst vor zwei Tagen geschenkt hat. Auf einmal fühle ich mich so sehr eingeengt in meinem Zimmer, dass ich raus muss! Also nehme ich mir meine Jacke und gehe nach draußen. Dort umströmt mich gleich eine drückende Hitze, weshalb ich meine Jacke auch wieder ins Haus bringe. Dennoch ist die schwüle Luft sehr befreiend.
Aus Angst, mich könnte jemand sehen, da ich doch eh nur ,,die Neue" bin, schlage ich den Weg ins Unheimliche ein. Der Wald. Ich sollte schließlich vorbereitet sein auf heute Nacht. Es kann ja nicht schaden, ein bisschen die Orientierung zu behalten.
Der Boden ist trocken. Es sieht aus, als hätte es lange nicht mehr geregnet. Die Bäume blühen in den schönsten Farben. Eigentlich scheint es hier gar nicht so schlimm. Trotzdem kann mir niemand die Angst vor wilden Wölfen nehmen. Der Schatten im Unterholz dringt durch mein Bewusstsein. Was, wenn diese Kreatur - oder was weiß ich - immer noch in diesem Wald wandelt? Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken.
Verschreckt bleibe ich stehen. An einem Tannenzweig klebt altes, vetkrustetes Blut. An dessen Stamm steht etwas in roter Farbe gekritzeltes. Es sieht aus wie
Vos poeniteat.
Was für eine Sprache ist das? Was bedeutet es?
Ich will näher herantreten, doch ich habe vorher nicht auf den Boden geschaut, was mir jetzt zum Verhängnis wird. Vor mir liegt ein Wolf.
,,Aaahhhhhhhh!", tönt es durch den Wald. Erst als der Schrei des Entsetzens erstickt, wird mir bewusst, wer geschrien hat - ich. Mir ist bis auf die Knochen kalt, obwohl der Spätfrühling eine so drückende Hitze aussendet. Der Schock steckt mir so sehr in den Gliedern, dass ich auf die Knie zusammen sacke. Geradewegs auf den Wolf. Es könnte auch ein Werwolf gewesen sein. Sicher bin ich mir da nicht mehr. Er ist mit Blut verschmiert. Tot oder lebendig? Wahrscheinlich tot. Er hat ja schließlich nichts von meiner Heftigen Berührung mitbekommen. Seine smaragdgrünen Auge starren ins Leere.

wolf fireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt