Kapitel 6
Einerseits freue ich mich auf die Schule, anderseits jagt mir der Tag Angst ein. Die Freude kommt daher, dass ich heute vielleicht schon allein durch die Schule laufen kann, ohne dass mir Custos hinterherrennt und mich beleidigt. Und Angst habe ich, weil wir in Mathe den Test schreiben und mir noch weitere Lehrer vorgestellt werden müssen, wozu leider Custos beauftragt wurde.
Ich irre noch ein wenig durch die Gänge, bevor Lilli auf mich zugerannt kommt und mich stürmisch umarmt. Ich atme ihr Deo ein. Zitrone und Vanille. Ein ziemlich verrückter Duft.
,,Oh, Aysu, ich bin ja so froh, dass du da bist! Du musst mir unbedingt mal deine Nummer geben, damit wir schreiben können oder so." Sie zwinkert mir fröhlich zu. ,,Ach und bevor ich es vergesse, können wir vielleicht am Samstag irgendwas zusammen unternehmen? Ich will dich unbedingt näher kennenlernen! Also, jetzt mal im freundschaftlichem Sinne, wenn du verstehst, was ich meine." Sie ist ja ganz aufgedreht!
,,Hallo Lilli. Erstens, ja ich gebe dir dann meine Nummer. Zweitens können wir morgen gerne was unternehmen. Wie wäre es mit Eis essen? Und drittens fängt der Unterricht gleich an, was haben wir jetzt und wo? Ich vergess das immer."
,,Mathe. In der 205. Oh nein. Wir schreiben doch jetzt diesen Test und ich hab gar nicht gelernt! Na egal. Ich mach mich dann mal auf eine Sechs gefasst," kichert sie vor sich hin.
,,Wie findest du eigentlich Mr. Noyan? Ich finde ihn ja gar nicht so schlimm, du?" Das war gelogen. Ich wollte sagen, dass ich ihn doof finde und wie gemein er ist, aber meine Worte scheinen wieder von jemandem gesteuert zu sein.
Lillis Gesichtsausdruck verändert sich ins Fragende. ,,Du findest ihn ernsthaft okay? Ich meine, alle an der Schule hassen ihn, nur die Eltern nicht. Und zu dir scheint er ja besonders fies zu sein! Ich versteh dich nicht." Ich mich auch nicht.
Zusammen schlendern wir die Gänge entlang, die sich immer mehr lichten. Das Blau an den Wänden wirkt nicht ganz so dunkel, da die Fenster so groß sind. Das ganze Gebäude sieht überhaupt wie ein Palast aus, so riesig und idyllisch ist es.
Raum Nummer 205. Ich halte den Atem an. Wie erwartet quatscht Justus mit ein paar anderen Jungen, die mir noch unbekannt sind und Mona ist noch nicht da, als wir das Zimmer betreten. Custos scheint irgendwas mit Lineal und Füller zu zeichnen und lässt sich, wie gestern, nicht von seiner Arbeit unterbrechen.
,,Bis dann, Lilli", will ich ihr noch zurufen, doch da ist sie schon bei ihren Freunden.
Ich setzte mich also auf meinen Platz und packe mein Mathezeug aus.
,,Das kannst du gleich in deiner Tasche lassen. Oder hast du vergessen, dass wir einen Test schreiben?" Custos. Wie typisch. Schon nach einem Tag kann ich über ihn urteilen. Einfühlsam und selbstsüchtig. Nicht einmal eine Begrüßung kann er über die Lippen bringen. Dennoch packe ich mein Zeug wieder ein.
,,Guten Morgen, Custos. Nein, ich habe es nicht vergessen. Tut mir ja schrecklich leid, dass ich dir damit keine Freude bereiten konnte", sage ich mit so viel Sarkasmus in der Stimme, wie nur möglich.
Dann schiebt er mir sein Kunstwerk hinüber zu meiner Tischhälfte. Es ist ein Stundenplan. Ich muss zugeben, Custos hat eine sehr schöne Handschrift.
Anscheinend hat Justus unsere Anwesenheit bemerkt, denn er kommt jetzt zu uns hinüber.
,,Guten Morgen Aysu!" Das ist mal ein Gentleman ... wenn er sich nicht auf den Tisch setzen würde.
,,Guten Morgen! Hast du gelernt?" Ups. Falsche Frage. Justus verzieht das Gesicht zu einem Fragezeichen.
,,Äh ... Nein? Wer in unserem Alter lernt denn bitteschön?" Naja ... Ich zum Beispiel ... ,,Ich hab in meiner Freizeit Besseres zu tun als zu lernen. Du nicht?"
,,Doch, doch", lüge ich. Das Stundenklingeln beendet unseres Gespräch.
Mr. Noyan kommt gefolgt von der pinkhaarigen Mona ins Zimmer. ,,Sooooo meine Lieben. Wie versprochen gibt's heute den Test. Ihr freut euch doch alle schon darauf, nicht wahr? Ach und Aysu, bevor ich es vergesse, in deiner letzten Stunde nimmst du nicht am Unterricht teil. Da kommst du zu mir ins Sekretariat. Jetzt aber eurer Test. Lillesol, wärst du so freundlich, und teilst ihn aus? Dankeschön!"
Mir wird schlecht. Nicht wegen dem Test, nein, ich habe schließlich gelernt - wie sonst keiner hier - nein, es ist wegen der Ankündigung. Allein im Sekretariat. Nur mit Mr. Noyan! Was wird er von mir verlangen?
Noch bevor ich überhaupt darüber grübeln kann, steht Lilli vor unserem Tisch und gibt mir und Custos ein Blatt Papier. Hilfe!
,,Viel Glück!" Super. Genau das brauche ich jetzt.
,,Dir auch", lächle ich zurück.
,,Liebe Ladys, nicht so viel quatschen, sonst bekommt ihr eine Sechs und ich mehr Freizeit." Mr. Noyan. Mann, der nervt. Wie konnte er uns überhaupt hören, wenn er am anderem Ende des Raumes steht und wir nicht lauter als ein Flüstern geredet haben?
,,Der bekommt aber auch alles mit!" Ein bisschen Wut schwingt in Lillis Stimme mit. Custos verzieht seinen Mund zu einem Grinsen. Und wie konnte er uns hören? Egal. Meine Konzentration gilt nun zuerst dem Test.Letztlich war die Arbeit gar nicht so schwer gewesen. Und laut dem Stundenplan, den Custos mir gezeichnet hat, haben wir jetzt Geographie. Selbst die Raumnummern und Lehrer hat er daraufgeschrieben. Ich bewundere ja seine Fürsorglichkeit, auch wenn sie erzwungen ist. Dennoch komme ich nicht mit seinem Charakter klar.
In den restlichen Stunden verlief alles soweit ruhig. Die Lehrer sind nett und ich komme überall gut mit. Jetzt besteht mir also nur noch das Treffen mit Mr. Noyan im Sekretariat bevor. Allein der Gedanke daran lässt mir ein kalten Schauer über den Rücken laufen. Aber ich muss mir ins Gedächtnis rufen, für wen ich das hier mache. Für Mom. Ich sehe sie vor mir wie den Schimmer einer Elfe. Ich überstehe das hier für sie. Für sie werde ich kämpfen. Für sie überwinde ich Schmerzen. Für sie gebe ich niemals auf. Das habe ich ihr versprochen. Tief in meinem Herzen weiß ich, was Mom damit meinte.
Ich klopfe an die Tür.
,,Herein", tönt es von Innen. Ich hatte zwar gehofft, niemanden hier aufzufinden, doch das war ein Irrtum. Mr. Noyan sitzt vor einer Akte und würdigt mich keines Blickes. Mein Herz klopft, nein es hämmert an meine Rippen, so aufgeregt bin ich.
Er grummelt etwas, dass ich mich setzten solle - also so deute ich es, weil er sprach so leise, dass ich erst dachte, ich hätte Halluzinationen. Erst als er es das zweite Mal sagt, oder besser gesagt brüllt, wird mir bewusst, dass ich mich schon wieder geirrt habe.
Bringen wir es auf den Punkt. ,,Warum wollten Sie mit mir allein reden?" Ich klinge ziemlich verunsichert.
,,Um dich zurechtzuweisen. Ich bin momentan Herrscher. Und einige meiner Untertanen legen letzte Hoffnung in dich. Aber die machen sie sich umsonst. Bevor du mich überhaupt stürzen kannst, werde ich dich vernichten." Sein kalter Ton jagt mir Angst ein. Von was sprechen hier alle? Elfe Nina hatte auch etwas von letzter Hoffnung gesagt. Langsam fügen sich die Puzzleteile.
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wolf fire
Paranormal,Ich sitze im Krankenhaus neben Mom. Sie sieht mich fast leblos an. Tränen rollen mein Gesicht hinunter. Ich weiß, dass sie jetzt sterben wird. ,,Aysu, Kleine, du wirst die Macht in dir nicht abschütteln können. Du wirst kämpfen müssen und Schmerz...