Kapitel 9

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Kapitel 9

Mein Handywecker reist mich aus dem Schlaf. Es ist halb 12 in der Nacht. Ich erinnere mich daran, was jetzt auf mich zukommen wird. Ich treffe mich mit einer anonymen Person, welche meine Nummer hat. In einer halben Stunde muss ich an der Lichtung im Wald sein. Ich bekomme Panik.
Okay. Ganz ruhig, Aysu, du schaffst das. Tief durchatmen. Es ist nur irgend ein doofer Wald. Nichts zum Fürchten. Da können nur irgend welche Kreaturen rumlaufen, die dir keine Angst einjagen können. Du kannst nur eine Person treffen, die du kennst wie deine Westentasche und sie kann dich auch nicht umbringen.
Ahhhhhhh! Mann, ich verfluche diese Angstgefühle! Aber niemand kann sie mir nehmen. Leider.

Der Weg zur Lichtung erweist sich als viel schwieriger als gedacht. Der Boden ist noch vom Regen aufgeschwämmt, so dass man darauf leicht ausrutschen kann. Das nasse Laub peitscht mir ins Gesicht. Die Dunkelheit irritiert mich, da der ganze Wald anders, bedrohlicher, beängstigender und gruseliger wirkt als bei Licht.
Als mir endlich die Lichtung erscheint, gebe ich einen erleichterten Seufzer von mir, weil ich erstens den Weg gefunden habe, zweitens weil ich meine Beine vom Laufen gar nicht mehr spüre und drittens weil mein unheimliches Ziel erreicht habe.
Ein Blick auf mein Handy lässt mich wissen, dass ich noch zehn Minuten Zeit habe. Ich suche mir also einen Stein, wo ich mich hinsetzen kann. In meine Angst mischt sich Langeweile ... und Kälte.
Bevor ich eingeschlafen bin, konnte ich Elfe Nina nicht erblicken. Ich weiß nicht warum, aber das bedrückt mich gerade total. Vielleicht sind es ihre Konturen, die mich an Mom erinnern. Oder ihre himmelblauen Augen. Oder überhaupt, ihr Name. Nina. Einfach alles an ihr erinnert mich an Mom. Selbst Elfe Ninas Stimme und ihr Charakter.
Ein Rascheln schräg hinter mir lässt mich zusammenzucken. Was war das?
Ein Blick auf mein Handy sagt mir, dass es jetzt Punkt Zwölf ist. Was, wenn das diese Person war, mit der ich mich treffen sollte?
,,Hey Aysu, schön das du da bist!" Schon wieder jemand, der weiß, wie ich heiße, bevor ich meinen Namen gesagt habe. Dieser Junge vor mir trägt eine schwarze Kapuze und auch sonst sind seine Sachen nur in einem Ton - schwarz. Er hat zugegeben eine sehr schöne Figur, das heißt, er wirkt sehr muskulös. Dennoch jagt er mir ein wenig Angst ein.
,,Ja. Und ... Wer bist du?"
,,Erkennst du mich nicht?"
Irgendwo her kenne ich seine Stimme, aber sein Gesicht ist ja durch die Kapuze verdeckt. In diesem Moment nimmt er, als hätte er meine Gedanken gelesen, die Kapuze ab und ich komme gar nicht raus aus dem Staunen.
,,CUSTOS? Was ... warum ... wieso bist du denn hier?!?"
,,Ich hätte gedacht, du könntest schlussfolgern. Du hast mir schließlich deine Nummer gegeben." Mist. Ich hätte es wissen müssen. Warum habe ich das nur so erfolgreich verdrängt?
,,Und jetzt ... Aysu ..." Er setzt eine Kunstpause. Er muss doch nicht ernsthaft darüber nachdenken, was er sagt. Als ob ihn interessieren würde, was ich über ihn denke!
Mir wird diese Pause langsam zu doof. ,,Jahaa, komm auf den Punkt!"
,,Wir sind anders...als andere..." Super. Wenn Custos jetzt nicht in Rätseln sprechen würde, wäre das noch verständlicher.
,,Wer ist wir?"
,,Die Imperianer." Kommt mir bekannt vor.
,,Was sind Imperianer?", frage ich trotzdem nach.
,,Wir sind Kreaturen." Ich wusste es!
,,Was für Kreaturen?" Ich muss zugeben, dass seine smaragdgrünen Auge selbst in der Finsternis außergewöhnlich schon leuchten, wenn ich sie mir so anschaue.
,,Urse, Volucres, Equos, Timore, Lepres, Werwölfe und Elfen." Aha. Ich weiß auch, was das ist. Grrrrr.
,,Und könntest du das bitte näher erklären? Ich versteh nur Bahnhof."
,,Urse sind fleischfressende, oder wenn du willst auch menschenfressemde Bären. Volucres sind Vögel, die sich bei Bedarf in Drachen verwandeln können und Wasser beziehungsweise Feuer speien. Equos sind Pferde mit grellgelben Augen, die bei Bedarf fliegen können. Timore sind eine Art Zombie, die auf den Equos reiten. Timore haben übrigens auch grellgelbe Augen. Und Lepres sind süße kleine Hasen, die jedoch messerscharfe Zähne haben und wenn sie den Auftrag bekommen, auch mal töten können. Was Werwölfe und Elfen sind, kannst du dir ja bestimmt selbst erklären."
,,Und was bist du?" Ich wollte das nicht fragen! Was ist nur los mit mir?
,,Werwolf. Das erkennt man an den smaragdgrünen Augen."
Oje. ,,Dann ist ja Mr. Noyan auch Werwolf, oder?"
,,Ja. Gut erkannt. Hätt ich nicht erwartet von dir." Päh.
,,Und warum erzählst du mir das alles?"
,,Weil du da eine große Rolle spielst."
,,Und welche?" Dem muss man auch alles aus der Nase ziehen.
,,Mr. Noyan ist momentan Herrscher über das Imperium. Er macht seinen Job eher schlecht. Einige Imperianer sind unzufrieden und eigentlich hat sich der Noyan die Macht erkauft. Sonst wird es innerhalb der Frauen weitervererbt. Und das Blut besitzt du in dir." Er lässt mir eine kleine Pause, um das alles zu realisieren. Das ist ausnahmsweise mal nett von ihm. Ich besitze Herrscherblut! Von einem Imperium, welches ich nicht kenne! Wenn das Amt immer wieder vererbt wird, dann war doch auch Mom Herrscherin! Dann müsste sie schwach gewesen sein, damit Mr. Noyan sie aus dem Weg räumen konnte. Dann muss Mom ein Imperianer gewesen sein! Was war sie, ein Ursus? Ich kann sie mir nicht als Bär vorstellen. Als Volucre allerdings auch nicht, genau so wenig ein Equo. Die haben schließlich grellgelbe Augen. Mom hatte Himmelblaue. Sie hatte auch nicht die Form eines Hasen, eines Lepres. Bleiben nur noch die Zombies, die Timore. Jedoch haben die ja auch grellgelbe Augen. Werwölfe haben Smaragdgrüne. Von Elfen weiß ich, dass sie zwar blaue Augen haben, aber nicht herrschen können. Das wundert mich.
,,Wer war vor Mr. Noyan Herrscher? Meine Mom? Nina?"
,,Ja."
,,Was war sie?"
,,Eine Imperatrix. Mr. Noyan hat sie vergiftet. Dann starb sie. Jetzt ist er an der Macht, obwohl Werwölfe nicht herrschen dürfen. Und Nina ist jetzt Elfe und machtlos, wie jede gestorbene Imperatrix. Imperatrixe besitzen immer Blaue Augen."
Elfe Nina ist meine Mom! Und sie hat es mir nie gesagt? Ich bin geschockt. Sollte ich ihm eigentlich glauben?
,,Und ... gibt es da mehrere, also fünf Stadtteile oder so?" Bitte bestätige nicht meinen Traum. Bitte bestätige nicht meinen Traum. Bitte bestät...
,,Ja. See, Audire, Sentire, Gustus und Reach. Dabei ist Sentire das größte ..."
,,Das größte Stadtteil und Cor ist der Stadthalter. Stimmts?" Mein Wissen bringt Custos in Verlegenheit und Erstaunen.
Er fährt sich mit der Hand durch die Haare. ,,Äh ... ja. Woher weißt du das?"
,,Ich hab es geträumt." Diesen Satz habe ich mit Absicht locker rüber gebracht, sonst hätte man meinen Stolz gehört.
,,Ach du scheiße." Warum das denn jetzt?
Wahrscheinlich muss ich so fragend geguckt haben, dass Custos mir auch sofort eine Antwort auf meine unausgesprochene Frage gibt: ,,Du ... du bist die Mächtigste Imperatrix. Und die letzte Hoffnung der meisten Imperianer."
Shit. Jetzt wird mir sein Bedenken bewusst. Am Ende will Mr. Noyan mich auch noch töten, aus dem Weg räumen.
,,Ab wieviel Jahren können die Imperatrix ihr Amt antreten?"
,,17."
Oh. Mir bleiben nur noch zwei Monate für die Vorbereitung auf diese Macht. Wenn ich damit einverstanden bin.
Custos steht immer noch vor mir, in schwarzer Kleidung. Seine smaragdgrünen Augen schimmern ein wenig, als würden sie gleich anfangen zu weinen oder sie schimmern vor Glück. Seine schwarzen Haare sind perfekt auf sein kantiges, schmales Gesicht angepasst.
Ich muss schrecklich aussehen mit meinen hellbraunen, fast schon blonden hüftlangen Haaren und wasserblauen Augen.
Einen Moment verharren wir noch so, dann greift Custos nach meinem Handgelenk - ich erschrecke mich natürlich - und zieht mich mit sich mit. Wir gehen, nein rennen in einem übernatürlichem Tempo durch den Wald. Geäst schlägt mir ins Gesicht. Ich stolpere ab und zu. Aber Custos scheint das nichts auszumachen.
Ich hasse es, wenn er immer so abrupt stehen bleibt, damit ich extra in ihn hineinrennen kann. Grrrrrrrrr.
,,Aysu?" Seine Stimme ist nur noch ein zittriges Flüstern. Unsere Gesichter sind nur wenige Zentimeter auseinander.
,,Ja?" Ich erwarte schlimmes ...
,,Hast du ... hast du einen ..." Weiter kommt Custos nicht. Eine Art Zombie steht vor uns. Vielleicht ein Timor.
,,Ja, sie hat einen Freund." Ach du meine Güte! Das war JUSTUS' Stimme! Aber ich hatte doch noch nie einen Freund! (Außer man bezeichnet eine Kindergartenliebe als Beziehung) Woher weiß Justus überhaupt das Ende dieses Satzes? Panik. Wird er von unserem Kuss erzählen?
,,Hau ab!" Custos kann ja richtig angsteinflößend knurren! Naja, ist ja auch kein Wunder, wenn er ein Werwolf ist.
,,Warum sollte ich? Sie gehört mir!" Was? Ich gehöre doch nicht ihm! Empörung. Erschütterungen. Verzweiflung. Angst. Schmerz. Sehnsucht nach meinem Leben davor. Trauer. All diese Gefühle mischen sich in mir zu einem großem glebrigem Brei und wollen einfach nicht verschwinden.
,,Ach Custos, es ist doch immer wieder schön, wie sehr du dich aufregen kannst. Aber mein Lieber, tut mir ja leid, aber du kannst dich heute nicht verwandeln. Erst zum nächsten Mond." Mein Blick wandert zu den Wolken. Fast Halbmond. Wie spät ist es eigentlich?
Als ich Justus wieder mustern will, fallen mir vor allem seine Augen auf. Grellgelb.
,,Justus, das ist kein guter Moment für unsere Magie. Nicht vor Mond und Wasser."
Okay. Ich kapiere echt nicht, worüber sich die beiden aufregen. Aber vielleicht muss ich das ja gar nicht. Denn Justus' Augen werden jetzt verlangend. Ich kann nicht anders als in dieses hellgrelle Licht zu blicken. Es verbrennt fast meine Netzhaut. Aber ich kann mich nicht davon losreißen.
Plötzlich. Dunkelheit. Wie von weit weg höre ich Custos entsetzt aufschreien. Es hört sich an wie als würden sich die beiden prügeln. Nur einzelne Wörter kann ich vernehmen.
"Ohnmächtig. Du. Schuld. Herbringen. Beschlagnahmen. Ausnutzen."
Letztlich kann ich gar nichts mehr wahrnehmen. Nur diese beängstigende Dunkelheit.

wolf fireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt