Kapitel 14

98 12 7
                                    

Kapitel 14

Ein Dienstag vom aller feinstem. Oder sollte ich sagen vom schlimmsten? Auf jeden Fall gibt uns Mr. Noyan gerade unsere Tests zurück. Ja, der Mr. Noyan, der zur Zeit über mein Imperium regiert. Dieser Werwolf, der sich als mieser Lehrer und Direktor ausgibt.
  Jetzt kommt er auf mich zu. Oje. Mein Test. Er schmeißt ihn förmlich auf meinen Platz neben Custos, der übrigens gelangweilt ein Auge malt.
  ,,Du solltest an deiner widerlichen Schrift arbeiten. Ich konnte es kaum entziffern", teilt der Noyan mir mit. Und der Künstler neben mir kichert, was allerdings in dem tuscheln und flüstern der anderen untergeht.
  ,,Danke trotzdem." Ich setze ein falsches Lächeln auf und Mr. Noyan geht weiter zu jemandem, der vor uns sitzt und dessen Namen ich noch nicht kenne beziehungsweise er hat mit mir noch keine Bekanntschaft gemacht.
  Endlich kann ich mein Blick auf die Arbeit richten. Eine eins. Was auch sonst. In Mathe war ich schon immer gut. So widerlich ist meine Schrift doch gar nicht! Naja. Ansichtssache.
  Mir kommt wieder Langeweile auf. Mal sehen, ob Custos mich völlig ignoriert. ,,Was hast du denn für eine Note?"
  ,,Eine zwei", sagt er gereizt, aber eigentlich hatte ich auch gar keine Antwort erwartet.
  ,,Von wem ist das Auge?"
  ,,Von jemandem."
  ,,Bekommt es dann noch Farbe oder bleibt es schwarz weiß?"
  ,,Es bekommt noch Farbe und jetzt nerv mich nicht."
  ,,Uhhhh, da ist aber jemand mies gelaunt." Grrrrrr. Dann versuch ich halt mit meinem geliebten Justus irgendwie Kontakt aufzunehmen. Halt stop. Was ist mit dem Justus, der in meinen Hirn-Gedankigen-Erinnerungen herumgespukt ist? Da hat er Aicha umgebracht. Aber wenn das wirklich der Wahrheit entspricht, dann ... ja was dann? Wie soll ich mich dann überhaupt Justus gegenüber verhalten? Soll ich es ignorieren? Oder ihn darauf ansprechen? Oder ihm am besten den Laufpass geben?
  Das Pausenklingeln reist mich aus meinen Überlegungen. Ich packe meine Sachen ein, als Lille auch schon zu mir rüber kommt.
  ,,Hey, Aysu. Gehn wir zu Justus?"
  ,,Ähm, sorry, aber ich muss auf Toilette." Nicht gerade die beste Ausrede, dennoch steckt ein bisschen Wahrheit dahinter. Ich muss nämlich mal.
  ,,Soll ich mitkommen?" Shit.
  ,,Brauchst du nicht, aber trotzdem danke", lächle ich sie an, räume mein letztes Zeug in meine schwarze Tasche und verschwinde.

  Ich schließe mich in die Toilette ein, in der Hoffnung, nie wieder hinaus zu müssen und setze mich auf die Klobrille. Ich weiß, es klingt blöd. Aber ich bin nun mal ziemlich verwirrt, was die Sache letzte Nacht betrifft. Wenn ich dem Glauben schenke, was ich da gesehen habe, dann bin ich am 29. Juli mit Custos zusammen. Dann wird Aicha gestorben sein. Nein. Das kann und will ich mir nicht vorstellen. Ich muss meine beste Freundin unbedingt in den Sommerferien besuchen. Vor meinem Geburtstag. Und dann darf Justus nicht mit.
  Die Schulglocke erinnert mich daran, dass der Unterricht jetzt eigentlich wieder beginnt. Aber ich ignoriere es einfach. Das erste mal in meinem Leben - wenn man es noch so nennen kann -, dass ich Schule schwänze. Naja. Jedenfalls bin ich jetzt allein hier drinnen. Ich muss zugeben, es ist nicht gerade der schönste Ort, um blau zu machen. Es gibt weitaus schönere. Wie zum Beispiel ... ja was eigentlich? Wo fühle ich mich denn bitte noch wohl?
  Die unbehagliche innerliche Einsamkeit überkommt mich. Niemandem kann ich mich anvertrauen. Aber ich muss darüber sprechen. Wenn ich es Justus sage? Er wird mich schon verstehen, aber ich bin unsicher, da er es ja gerade war, der Aicha umbringen wird. Wenn das alles stimmt. Wenn. Und wie soll ich es ihm sagen und vor allem, wann? Am besten heute noch. Aber in irgend einer Pause? Kommt vielleicht doof. Und heute Nachmittag? Oh verdammt. Ich hab doch heute Training! Obwohl. Was ist, wenn ich es Elenya erzähle? Sie würde mich auch verstehen. Sogar sehr gut, schließlich ist sie eine Pythonissam und Freundin von Grandma. Eigentlich bin ich doch gar nicht so arm dran. Ich hätte sechs Personen, denen ich es sagen könnte. Justus, Elenya, Elfe Nina, also Mom, Custos, Mona und Lillesol. Und Dad. Also doch sieben. Spielen wir doch Ene-Mene-Muh. Custos und Mona sind von vornherein schon weg. Also. Lilli scheidet als Erste aus. Mom sag ich es nicht. Elenya sag ich es nicht. Dad sag ich es auch nicht. Meine Wahl fällt auf Justus. Endgültig. Nur, wie soll ich es ihm beichten, wenn ich doch heute mein erstes Training mit Elenya habe? Ausfallen lassen? Schon wieder schwänzen? Sie enttäuschen?
  Was man nicht alles für die Liebe macht.
  Ich blicke auf meinen Stundenplan. Eigentlich hätten wir jetzt Ethik. Also kein Problem, das zu verpassen. Ist eh Langweilig. Was haben die Imperianer eigentlich für eine Religion? Christlich? Jüdisch? Irgendwas anderes? Eigentlich müsste ich es ja als Imperanerin wissen. Aber man hat es mir noch nie gesagt. Weder Mom noch sonst jemand. Sollte ich es nicht eigentlich spüren? Ich habe noch nie geglaubt. Daher weiß ich auch nicht, wie sich das anfühlt. Vielleicht empfinde ich es auch erst, wenn ich 17 und somit auch Imperatrix bin. Haben die Imperianer überhaupt einen Glauben?
  Das Geräusch vom Runterdrücken der Toilettentürklinke reist mich aus meinen Gedanken. ,,Na, Kleine? Alle denken du hast deine Tage, weil du hier so lange rumhängst."
  ,,Mona, richtig?"
  ,,Jap. Gut erkannt."
  ,,Was willst du von mir?"
  ,,Dass du zurück in die Klasse kommst."
  ,,Aja. Und du meinst, ich komm da einfach so, weil du mir das sagst."
  ,,Nun ja. Lille wollte erst nach dir schauen, aber ich hab sie zum Schweigen gebracht."
  Ich bin verdutzt. ,,Du wolltest zu mir? Und warum, jetzt mal ehrlich?"
  ,,Weil wir reden müssen. Über ..." Sie setzt eine Kunstpause.
  ,,Mach's nicht so spannend!"
  ,,Über dich. Du verhältst dich komisch. Und jetzt komm mir nicht mit der Ausrede, dass deine Mom jetzt Elfe ist."
  Ich bin noch mehr verdutzt. Mona interessiert sich für mich?! Soll ich ihr von dem Hirngespinst erzählen? Eher nicht, oder? Jetzt bin ich nicht nur verdutzt, sondern auch noch verunsichert. ,,Ich habe den Tag vor meinem Geburtstag ... gesehen."
  ,,Holy shit." Ich bin ganz ihrer Meinung. Ausnahmsweise. Da ist wieder der Unbekannte, der bestimmt, was ich sagen soll. Aber warum findet sie es scheiße?
  ,,Was?"
  ,,Du bist mächtig. Sehr mächtig. Du kannst die Zukunft aufspüren, ohne die Gegenwart zu verlassen."
,,Hä?" Ich kapier es nicht.
,,Nur Elfen können Visionen haben. Und du hast sie jetzt schon. Das ist ... das ist krass." Vision also.
  ,,Wie steht es mit Vergangenheit? Und Gegenwart an anderen Orten?"
  ,,Vergangenheit wird auch Flashback genannt, aber das hat so gut wie jeder. Nichts besonderes. Gegenwart an anderen Orten jedoch. Das hab ich noch nie gehört. Hattest du schon mal sowas?"
  Sag nein, Aysu! Sag nein! Du hast schon zu viel verraten! ,,Ja." Oh shit.
  ,,Was hast du gesehen?"
  ,,Eine Versammlung aller Imperianer und wie Mr. Noyan Stadthälter ernannt hat." Okay. Ich gebe dir jetzt einen Namen, du was-weiß-ich,-was-du-bist. Neminen. Niemand auf Latein. Und wenn du noch einmal versuchst, für mich zu sprechen, dann. Ja, mit was kann ich dir eigentlich drohen?
  ,,Und wann war das?"
  Wehe, Neminen, wehe du sagst, wann es war. Bitte. ,,Zu" Nein. Ich schließe meinen Mund, damit ich nichts sagen kann beziehungsweise damit Neminen nichts mehr sagen kann.
  ,,Zu?", fragt Mona nach.
  ,,Vollmond. Letzten Vollmond." Ich habe keine Chance gegen sie. Diese Neminen.
  ,,Du kannst es wirklich."
  ,,Und was ist jetzt, lässt du mich hier und verschwindest oder spielst du Babysitter?"
  ,,Babysitter. Hast du ja dringend nötig." Aja.
  ,,Was willst du eigentlich?"
  ,,Dir Gesellschaft leisten." Oh, wie ich sie hasse. Ich beschließe, erst einmal zu schweigen. Aber schweigen ohne zu denken funktioniert wohl nicht. Grrrrrrr.
  Also. Was mich mal interessieren würde, ist, was Mona für ein Wesen ist. Und was an was die Imperianer denn für einen Glauben haben. Mir kommt das Treffen mit Custos am Samstag in den Sinn. Als wir dann Justus begegnet sind, hat Custos zu ihm gesagt, er solle die Magie nicht vor Mond und Wasser anwenden. Ach, wenn du, Neminen, schon mal mit den Visionen rausgerückt hast, können wir doch auch gleich fragen.
  ,,Was bist du?"
  ,,Oh, die kleine Aysu hat sich doch dazu erbarmt, mit mir zu reden. Aber, zu deiner Frage: ich bin eine Confusionem", antwortet Mona mit so viel Ironie in ihrer Stimme, dass sie es schon wieder ernst meinen könnte.
  ,,Und was ist bitte eine Confusionem?" Irgendwann bin ich bestimmt mal überfordert mit den ganzen Kreaturen.
  ,,Eine Imperianerin."
  ,,Wow, das hätt' ich jetzt nicht gedacht", entgegne ich gereizt.
  ,,Was fragst du dann noch so blöd?"
  ,,Was kannst du als Confusionem denn alles anstellen?"
  ,,Jemanden etwas sagen lassen, das derjenige gar nicht sagen will. Und das Gedankenlesen muss ich noch ein bisschen üben. Bin noch nicht so gut drin." Dann ist sie also Neminem.
  ,,Du hast dein ganzes Leben die Chance gehabt, das zu trainieren und du kannst es noch nicht so gut?"
  ,,Nein, erst seitdem ich 16 bin. Also seit einem halbem Jahr."
  Erste Frage geklärt. ,,Was haben die Imperianer eigentlich für einen Glauben?", lautet Frage Nummer zwei.
  ,,Das ... müsstest du als Imperatrix doch selber am besten wissen", meint sie erstaunt.
  ,,Ich weiß es aber nicht", gebe ich zurück.
  ,,Gut, dann sag ich es dir jetzt. Wir glauben an den Mond. Luna."
  ,,Oh." Mehr weiß ich nicht dazu zu sagen. Ein Naturglaube also.
  ,,Willst du eigentlich gar nicht raus aus deinem Scheißhaus?"
  ,,Nein, nicht solange du davor stehst." Nervensäge. ,,Eine letzte Frage habe ich allerdings noch."
  ,,Die letzte? Das ist schön."
,,Wer oder was ist Mond und Wasser? Oder halt was meint das?"
  ,,Mond und Wasser? Du weißt nicht, was dein eigener Name für ein Sinn hat? Das, meine Süße, das bist du. Aysu."
  Ich schlucke schwer. ,,Hat die Namensbedeutung etwas mit meinem Dasein als Imperatrix Einfluss?"
  ,,Jap." Hab ich's doch geahnt. ,,Du wirst Fähigkeiten haben, die damit verbunden sind." Das hab ich nicht geahnt.
  Halt, Moment. ,,Fähigkeiten? Was denn für welche zum Beispiel?"
  ,,Das ... weiß noch keiner." Enttäuschung schleicht sich in meinen Hass. ,,So, wie ich dich bereits kenne, willst du anscheinend keine weitere Stunde als Ethik verpassen. Jede Sekunde sollte klingelt es. Wir müssten los."
  ,,Mh." Ich schließe die Tür wieder auf, genau in dem Moment, als es zur Pause läutet, und folge der Neonpinkhaarigen in das Deutschzimmer. Währenddessen fällt mir auf, dass ich immer noch nicht weiß, wie ich jetzt mit Justus geschweige denn mit Custos umgehen soll. Also bleibt es dabei, dass ich mich mit Justus heute nach der Schule treffe. Und das Training schwänze. Ich weiß schließlich eh nicht, wo es hätte stattfinden sollen.

  Letzte Stunde. Endlich ist sie vorbei. Ich packe meine Zeug ein und gehe sofort rüber zu Justus.
  ,,Wir müssen reden", beginne ich ernst.
  ,,Über was?", kommt es ein bisschen schüchtern zurück.
  ,,Komm einfach mit."
  ,,Okay?!"
  Ich habe mich dazu entschlossen, es ihm auf dem Heimweg zu berichten. Wo uns niemand sieht. Oder stört. Oder belauscht. Natürlich nicht im Bus. Wir laufen.

  ,,Und über was sollten wir jetzt reden?", fragt Justus mich erneut.
  ,,Über ... einen Traum." Er soll nicht wissen, dass es eine Vision war.
  ,,Ein Traum? Sicher?"
  ,,Ja, sicher. Also, du kennst doch bestimmt das Imperium, oder?"
  Er nickt. Gut. Aber ... ,,Eine kleine Frage, was bist du?" Es interessiert mich einfach.
  ,,Was ist jetzt mit dem Imperium?", weicht er meiner Frage aus und blickt auf den Boden, um mir nicht in die Augen zu schauen. Aber egal. Ich werde es schon noch irgendwie irgendwann herausfinden.
  ,,Nichts, wollte nur wissen, ob ich es dir wirklich erzählen kann."
  ,,Was willst du mir denn erzählen?", fragt er geduldig und sieht mich wieder so süß, wie nur er es vermag, von der Seite an.
  ,,In dem Traum habe ich Erinnerungen gesehen. Von etwas, das ich noch gar nicht erlebt habe. Um genau zu sein, warst du es, der meiner besten Freundin die Seele ausgesaugt hat. In der Türkei. Es sah ziemlich real aus und ich denke, ich kann dem Glauben schenken. Aber ich weiß jetzt nicht, wie ich damit umgehen soll." Jetzt ist es raus. Jetzt kann ich es nicht mehr zurück nehmen. Ob ich wöllte oder nicht.
  ,,Ignoriere es doch ganz simpel", empfiehlt er mir.
  ,,Und ich bin in dem Traum mit Custos zusammen." Mir läuft ein Schauer des Enkels den Rücken runter.
  ,,Ich finde, bei diesem Traum hat dir irgendjemand einen fiesen Streich gespielt. Vielleicht ein Confusionem oder so. Man weiß ja nie." Ein Confusionem kann auch in Träume beziehungsweise Visionen eindringen? Mir fällt da nur ein Name ein, der von der einzigsten Confusionem, die ich kenne: Mona.
  ,,Sicher?", frage ich ihn nun meinerseits.
  ,,Ja, hundertprozentig", lächelt er mich an. Es ist ein warmes lächeln.
  ,,Gut, dann werde ich deinen Rat befolgen und es ganz simpel ignorieren. Danke." Ich muss automatisch auch lächeln.
  ,,Weißt du, was ich dir schon die ganze Zeit mal sagen wollte, ich ... ich liebe dich, mein Sternchen. Seit ich dich das erste mal gesehen habe wusste ich, dass dieses bezaubernde Mädchen, welches jetzt vor mir steht, besonders ist. Und ich wünschte, wir könnten uns küssen, ohne dass du mich gleich ankotzt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und das ... das möchte ich gern noch einmal testen. Natürlich nur, wenn du damit einverstanden bist", gesteht er mir zärtlich seine Liebe. Und mir schwirren jetzt tausend Gedanken durch den Kopf. Ein Wirrwarr aus Wörtern, die sich nicht zu Sätzen fügen wollen. Ich könnte sagen 'Hilfe er liebt mich!' oder 'Scheiße, was soll ich jetzt sagen?!' oder 'Verdammt, ich wollte ihm zuerst sagen, dass ich ihn liebe.' oder aber auch einfach nur schweigen. Ich bin ja eher für Letzteres.
  ,,Und ... bist du damit einverstanden?", hinterfragt er es noch einmal, bevor ich mich überglücklich zu ihm beuge und leidenschaftlich meine Lippen auf die seine lege. Justus erwidert ein wenig zaghaft meinem Kuss. Wir bleiben stehen. Mitten auf dem Weg. Wo uns jeder sehen kann. Aber das ist mir egal.
  ,,Ich ... liebe dich ... auch, Herzchen", entgegne ich nun auch, ohne mich von ihm zu lösen zwischen zwei wilden Küssen. Meine Hände durchwühlen seine Haare und er hat seine eine in meinem Nacken und die andere ruht auf meiner Taille. So stehen wir da. Tief ineinander geschlungen und uns liebevoll küssend.
  Dann löst mein Herzchen sich prompt von mir. ,,Lass uns bei dir Zuhause weiter machen. Okay, Sternchen?"
  Das klingt gut. Zuhause, auf meinem Bett. Ich schiebe die Vorstellung gedanklich beiseite, nehme seine rechte Hand und wir gehen vergnügt, uns anlächelnd und ein bisschen benommen weiter.
  ,,Zu Fuß oder nehmen wir doch den Bus?"
  ,,Zu Fuß. Ist romantischer", zwinkert er mir zu.

wolf fireWo Geschichten leben. Entdecke jetzt