☂️ Kapitel 3 ☂️

58 6 2
                                    

Weil mir nach einer Weile Selbstbemitleidung langweilig wurde, holte ich mein Häkelzeug heraus. Ich häkelte gerade eine Decke aus halben Stäbchen und Luftmaschen, sodass eine Art Netz entstand. Ich erzählte halbherzig von der Schule und dann schwieg ich. Ich versuchte zu vergessen, dass ich ich war und was mein Leben war. Es gab im Moment nur mein Häkelzeug, den kühlen Luftzug des Windes und den Geruch von den Nadelbüschen. Es war ein schönes Gefühl. Vielleicht war ich glücklich, aber ich war auf jeden Fall zufrieden. Zufrieden mit der Ruhe, die ich nur hier erlebte. Niemand war da, der mich stören würde. Die paar Besucher, die ab und zu vorbeikamen, waren ruhig. 

Ich schaffte drei Reihen, bis sich der Himmel verdunkelte und die ersten Tropfen fielen. Ich faltete meine Arbeit sorgfältig zusammen und steckte die Häkelnadel mit der Masche drauf durch das Wollknäuel, das während meinem Besuch ganz schön abgenommen hatte. „Bis dann. Danke fürs zuhören. Ich gehe jetzt vielleicht noch ein bisschen spazieren und stelle mich zur Not irgendwo unter, hier oben hat es gerade wieder angefangen zu regnen." Ich stand auf und nahm meinen Regenschirm heraus, öffnete ihn und ging den Weg hinunter, auf dem ich nur einem alten Mann begegnete, der auf dem Weg zum Trauerhaus war, um sich dort unter dem Vordach unterzustellen. Ich lief in die entgegengesetzte Richtung, im Moment reichte mir der Regenschirm. Der Regen prasselte regelmäßig auf den Schirm und der Duft von den Nadelbüschen wurde noch intensiver, zusammen mit dem sich nun verbreitenden Duft von nasser Erde. Ich bog auf einen Weg ab, an den ich mich nur noch schwach erinnern konnte. Das Denkmal dort hatte ich schon einmal gesehen, es war aber schon länger her. Ich war schon seit Wochen hier auf dem Friedhof nicht mehr spazieren gegangen. Ich blieb kurz vor einem alten, großen Baum stehen, der in eines der Gräber gepflanzt war. Anmutig erstreckten sich seine dicken Äste über meinem Kopf. Er musste so stark sein, um diese Äste halten zu können. Schließlich wanderte ich weiter, ich suchte meinen Lieblingsteil. Nach einer gefühlten Stunde entdeckte ich ihn. In meinem Lieblingsteil lag ein riesiges Mausoleum mit einem eisernen Tor, das mit Ketten verschlossen einen Spalt offen stand. Ich wusste nicht, wie ein Mausoleum von innen aussah und ich wollte es eigentlich auch nicht wissen, weshalb ich mich immer von diesem Tor fern hielt. Aber es gab dort auch viele alte Gräber mit Steinplatten, über denen beinahe lebensgroße Engelsfiguren standen. Der Stein war schon sehr alt und begann an den meisten Stellen schon zu bröckeln, manche Platten waren auch einen Spalt offen. Überall standen hohe Kiefern mit dichten Ästen, die alles in Schatten legten. Die Erde war hier besonders alt und hart, der Friedhof wurde hier kaum noch gepflegt und es kam selten jemand her, soweit ich wusste. Auch ich kam nicht oft her, weil er so weit vom Eingang und von Mamas Grab entfernt lag. Ich ging langsam durch die Grabreihen, der Regen hatte Schwierigkeiten, durch die dichten Nadeln der Kiefern zu kommen. Es war so ruhig. Beinahe unheimlich, da die Wolken und die Kiefern die Sonne kaum durchließen.

Das war der Tag, an dem ich ihn das erste Mal sah. Er saß dort auf einem der Gräber, rauchend und so düster wie einer von Bram Stokers Vampiren. Seine langen, schwarzen Haare hingen ihm im Gesicht, nass vom Regen. Ich kam langsam auf ihn zu, während er mich einfach nur ansah und die Zigarette wieder zum Mund führte. Er musste älter sein als ich, aber nicht viel. Ich blieb vor ihm stehen und er starrte mich an, ich starrte zurück. „Brauchst du einen Regenschirm?" fragte ich. Er antwortete nicht, also setzte ich mich einfach neben ihn und hielt den Schirm über uns beide. 

Er stank fürchterlich, nicht nur nach Zigaretten, sondern auch nach Alkohol - und vielleicht noch mehr. „Danke." seine Stimme passte genau zu seinem Erscheinungsbild: rau, tief und von einer ungewöhnlichen Ruhe. So saßen wir also. Keiner von uns sagte etwas, nur der Regen trommelte laut auf den Regenschirm. Keiner musste etwas sagen. Es gab nichts zu sagen. Er drückte seine Zigarette aus. Nach einer Weile hörte auch der Regen auf. Ich schloss den Regenschirm, aber nicht vollständig, damit der Regen abtropfen konnte, solange ich ihn neben mich stellte. „Ich habe dich noch nie hier gesehen", stellte ich fest. Er antwortete zuerst nicht, sagte aber dann: „Ich dich auch nicht." „Also warst du schon einmal hier." Er sah mich nicht an, er sah geradeaus ins Leere. „Ich bin oft hier." „Ich auch, aber nicht unbedingt in diesem Teil." 

Ich weiß nicht, wie lange wir einfach dasaßen, aber irgendwann zündete er sich eine neue Zigarette an. Ich sah ihm eine Weile zu, aber irgendwann sagte ich: „Vom Rauchen stirbt man." Nun sah er zu mir. Seine Augen waren braun, aber sie waren seltsam trüb. „Sterben wäre gar nicht so schlecht", sagte er. Er musterte mich, aber ich ignorierte das. „Wieso schneidest du dir dann nicht einfach die Arme auf? Geht schneller." Er nahm noch einen tiefen Zug. „Hast du es schon mal versucht?" „Zu rauchen oder mir die Arme aufzuschneiden?", fragte ich. Er schien einen Moment zu überlegen, dann meinte er: „Beides." „Rauchen habe ich noch nicht ausprobiert und will ich auch nicht, davon würde ich fett werden und noch hässlicher, als ich ohnehin schon bin. Und mir die Arme aufzuschneiden... noch nicht wirklich." Er sah mich lange an, während ich schon wieder wegschaute. Irgendwann sagte er dann: „Ich finde dich nicht hässlich." Das war es dann aber auch. 

Mir wurde langweilig und ich holte meine Häkelarbeit wieder heraus. Er drückte seine Zigarette wieder aus. „Was wird das?" Ich sah nicht auf. „Eine Decke." Er sah mir zu, während ich häkelte. 

Es mussten Stunden vergangen sein. Ich hatte für einen Augenblick beinahe vergessen, dass er da war, so still war er. Aber irgendwann war das Knäuel alle. Ich faltete die Decke wieder zusammen und stopfte sie in meinen Beutel, aus dem ich nun mein Notizbuch herausholte. Ich schrieb auf, was ich heute hier gemacht hatte und was mir durch den Kopf ging. Ich schrieb auch über den Jungen neben mir. Er schien mitzulesen, aber mir war das egal. Sollte er ruhig mitlesen. 

Ich habe Mama vier neue Steine hingelegt: zwei türkisfarbene, einen schwarzen mit Spinnweben und einen mit grauem Farbverlauf und weißen Herz. Ich habe an meiner Decke weitergehäkelt, irgendwann war die Wolle alle. Ich habe nun schon zwölf Reihen. Auf dem Weg hierher hat mich Láme Immortelle auf die Idee gebracht, dass ein Fluch in mir ist. Er ist auf der allerletzten Seite meines Notizbuches verankert, so habe ich das verstanden. Das, was da stehen wird, ist also der Fluch, der in mir wächst. Dann wäre das also gar nicht meine Schuld, dass ich all das getan habe. Ich sitze gerade neben einem stinkenden Jungen auf einem Grab in meinem Lieblingsteil, er raucht die ganze Zeit. Er sieht aus wie ein Vampir und liest gerade wahrscheinlich mit. Er redet ziemlich wenig, was ganz gut ist, dann kann ich keine dummen Sachen antworten. Vielleicht bringt er sich wegen mir um. Ich habe ihm gesagt, dass er sich die Arme aufschneiden soll, wenn er sterben will. Wenn er stirbt, bringe ich mich aber auch um. Leben macht Spaß, aber anderen das Leben zur Hölle machen macht eigentlich nicht wirklich Spaß. Und spätestens jetzt denkt er, ich bin verrückt, wenn er mitliest. Er ist aber auch komisch. Und wenn er sich gleich die dritte Zigarette anmacht, dann gehe ich, nur, dass er es weiß. Wie heißt er überhaupt? 

Er schnaubte. Ich konnte nicht deuten, ob es ein belustigtes oder ein wütendes Schnauben war. Es war mir eigentlich auch egal. Nein, war es nicht. Ich hoffte, dass es ein belustigtes Schnauben war. „Ich heiße Edgar. Ich weiß, ist ein komischer Name." Ich schüttelte den Kopf. „Mein Name ist noch seltsamer. - Ich heiße Leonore. Nur drei von zehntausend deutschen Mädchen haben diesen Namen, er ist also definitiv seltener als Edgar." Er sah mich nachdenklich an. „Darf ich dich Lenore nennen?" Er sprach es Lenor aus. Unsere Blickte trafen sich. Er wusste, dass ich das Gedicht kannte. Er spielte auf das Gedicht Der Rabe von Edgar Allan Poe an. Ich nickte. Aber ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Warum er mir jetzt so in die Augen sah und weshalb ich nicht wegsah. Er fing nicht noch einmal an zu rauchen und ich ging nicht nach Hause.

Mortalis (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt