🧺 Kapitel 28 🧺

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Viel zu schnell war der Nachmittag vorbei und Ella musste abgeholt werden. Nun stand ich alleine in meinem Zimmer und kam wieder in der Realität an. Mir wurde klar, wie unbeschwert meine Kindheit gewesen war. Ich wünschte, mein Leben würde wieder ein Stück dieser Leichtigkeit zurückgewinnen. Voller Nostalgie betrachtete ich die selbstgebauten Häuser. Ich beschloss, sie noch ein wenig stehen zu lassen. Einfach so, zum Anschauen. Alleine spielen würde ich wohl nicht mehr mit ihnen.

Zehn Minuten später erwischte ich mich dabei, wie ich eine Barbie an den Esstisch in einer improvisiorischen Küche setzte. So viel zum Thema Kindheit. Ich war immer noch ein kleines Kind. Es war nur so albern, da ich mich ein wenig wie eine Erwachsene fühlte, ich wurde so behandelt und verhielt mich dementsprechend auch oft wie eine. Ich war plötzlich richtig stolz auf mich, zumindest aus der Perspektive meines jüngeren Ichs. Ich stand auf und sah in den Spiegel. Mit einem Mal war ich so dankbar für alles an mir, meine Kleidung, mein neuer Eyeliner, aber vor allem mein Körper. Ich lächelte mein Spiegelbild an. Und mit einem Mal verstand ich, wie sich Selbstbewusstsein anfühlte. Und ich beschloss, von nun an meine eigene beste Freundin zu sein und auf mich selbst aufzupassen. Ich verzog das Gesicht, als ich bemerkte, wie seltsam ich mich gerade verhielt. Ich legte mich aufs Bett und griff nach meinem Handy. Irgendwie hoffte ich, dass Edgar noch mal geschrieben hatte, aber natürlich hatte er nicht geschrieben. Er war bei sich zu Hause und es war nicht sein Handy.

Der Abend zog sich unglaublich in die Länge. Morgen Nachmittag. Morgen Nachmittag konnte ich ihn wiedersehen. Ich lag zusammengerollt auf meinem Bett und starrte die Wand an. Zu mehr war ich nicht mehr in der Lage, in meinem Kopf spielte ich nämlich alle möglichen Szenarien ab, was morgen passieren konnte. Und das nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch seit Stunden. Ich konnte nicht einmal schlafen. Ich stand wieder auf und wickelte mich in meine Bettdecke, mit der ich mich auf die Fensterbank setzte. Draußen war es still. Kein Regen, nichts. Nur die Straßenlaternen. Ich starrte eine weile auf die leere Straße und stellte mir vor, ich würde dort unten jetzt mit ihm langlaufen. Am liebsten würde ich den ganzen Tag alles mit ihm machen. Das war seltsam, denn selbst bei meinen besten Freundinnen hatte ich nie diesen Drang verspürt. Vielleicht hatte ich mich einfach noch nie so verstanden gefühlt. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass Edgar mich verstand wie sonst niemand. Ging es ihm genauso?

Ich wachte mitten in der Nacht auf und konnte nicht mehr schlafen. Ich schaltete mein Nachtlicht ein und starrte das weiße Tuch über mir an. Meine Gedanken waren zu schnell, um einen von ihnen klar erfassen zu können. Ich hatte sogar von ihm geträumt. Ich hatte vom letzten Treffen geträumt. Unruhig drehte ich mich von einer Seite auf die andere, bis ich mich schließlich aufsetzte und nach Sturmhöhe griff. Das vertraute Rascheln der Seiten verfehlte seine Wirkung nicht und versetzte mich sofort in eine andere Welt. Ich las, bis die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg in mein Zimmer fanden und ich mich wieder Schlafen legte. Ich war sogar müde genug, um sofort wieder einzuschlafen. Erst fünf Stunden später wachte ich wieder auf, es war schon wieder elf Uhr. Ich schloss die Augen nach dem Blick auf meine Uhr wieder und kuschelte mich in meine Decke. Mir fiel Edgar ein. Heute würde ich ihn wiedersehen. Heute. Wann würde er da sein? Ich wollte ihn so bald wie möglich treffen. Nachmittags hieß aber wahrscheinlich nach ein Uhr. Wann aßen wir zu Mittag? Ich würde die blöde Mittagessen-Regel wohl auch heute nicht umgehen können, also sollte ich erst nach dem Essen los. Was, wenn wir erst um halb drei aßen? Na gut, das war sehr unwahrscheinlich, wir aßen nie so spät. Eher wäre das Mittagessen meine erste Mahlzeit. Ich würde es herausfinden.

Ich war aufgeregt, gestand ich mir selbst ein. Und ich ließ mich aufgeregt sein. Selbst falls es bald zu Ende war, lohnte sich dieses unglaubliche Gefühl, gefühlt zu werden. Ich träumte noch ein wenig vor mich hin, bis meine Tante mich weckte. Widerwillig kam ich aus meinen Tagträumen in der Realität an und schlurfte zu meinem Kleiderschrank. Ein Kleid mit einer Strickjacke war die einfachste Wahl. Was würde Edgar davon halten? Würde es ihm gefallen? Würde er überhaupt drauf achten? Wieso interessierte es mich überhaupt, ich zog es für mich und nicht für ihn an. Es gefiel mir und das war alles, was zählte. Beim Schmuck erwischte ich mich bei den selben Gedanken und auch beim Schminken gab ich mir ungewöhnlich viel Mühe. Ich war angespannt und beschwingt zugleich, eine seltsame Mischung. Ich ging in die Küche, obwohl ich überhaupt keinen Appetit hatte. Ich trank ein Glas Wasser und nahm mir einen Apfel. Dann suchte ich meine Tante, da mir langweilig war.

Sie saß an ihrem Schreibtisch und scrollte im Browser herum. Ich setzte mich auf den Klavierhocker und biss in meinen Apfel hinein. „Na?" Sie drehte sich mit dem Stuhl halb zu mir um. „Morgen", meinte ich kauend. „Gut geschlafen?", fragte sie. „Nicht wirklich, aber wahrscheinlich genug. Ich bin heute Nacht irgendwann aufgewacht." Sie nickte. „Ich konnte auch nicht gut schlafen. Und was sind deine Pläne für heute?" Ich sah sie nicht an, sondern inspizierte meine Bissspuren im Apfel. „Gehe wahrscheinlich spazieren und noch Mal auf den Friedhof. War lange nicht mehr da." Die paar Tage waren wirklich lange gewesen. „Okay. Ich bin nachher noch mit Freundinnen auf einen Kaffe verabredet." Es war immer noch ungewohnt, mich mit meiner Tante zu unterhalten. Sie war aber die letzte Woche viel netter geworden. Ich hätte echt nicht gedacht, dass man so gut mit ihr auskommen konnte. Wahrscheinlich ertrug mein Vater sie deshalb, weil sie netter zu ihm war. „Wann essen wir eigentlich?" Sie sah auf die Uhr. „In einer halben Stunde oder so koche ich, also wahrscheinlich gegen zwölf, wenn das in Ordnung ist." „Ja, klar. Kann ich dir nachher bei irgendwas helfen?" „Ist alles gut bei dir?" Sie stand auf und befühlte meine Stirn. Ich zog die Augenbrauen hoch. „Du bist die einzige, die sich gerade seltsam verhält." Ich stand auf und stolzierte zurück in mein Zimmer. „Wenn du willst, kannst du die Wäsche aufhängen, die in zehn Minuten fertig ist", rief sie mir hinterher. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Wäsche aufhängen war eine tolle Ablenkung.

Mortalis (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt