🦇 Kapitel 9 🦇

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Wir liefen gemeinsam ein Stück. Das war jetzt das dritte Mal, dass ich ihn hier traf. Er hatte sich ein wenig verändert, seitdem ich ihn das erste Mal gesehen hatte. Da hatte er ungepflegt geschienen, seine Haut war kränklich blass gewesen und seine Augen waren so komisch gewesen. Am nächsten Tag hatte er saubere Klamotten gehabt und gewaschene Haare, außerdem hatte er nicht mehr so gestunken. Heute schienen seine Augen wie das, was man als normal bezeichnete, er stank nicht (zumindest nicht so, dass ich es neben ihm laufend ausmachen konnte) und er hatte auch nicht mehr diesen kränklichen Hautton. Außerdem schien er immer noch gepflegt, seine Klamotten waren auch heute frisch. 

Ich sah auf mein Handy. Sie versuchten immer noch, mich anzurufen. Ich schaltete mein Handy einfach aus. „Wieso gehst du nicht ran?" Es klang nicht vorwurfsvoll, sondern interessiert. „Weil sie schon seit einer halben Stunde versuchen, mich zu erreichen." „Warum?" Ich verzog das Gesicht. „Na ja, wir hatten einen Streit..." Er sah mich immer noch interessiert an, also erzählte ich es ihm einfach. „Sie wollen nicht, dass ich den ganzen Tag alleine draußen herumlaufe oder zumindest machen kann, was ich will, weil sie es nicht merken. Sie wollten es mir verbieten und den Zeitraum, den ich draußen sein darf, einschränken, aber ich war damit überhaupt nicht einverstanden... Ich habe meine Tante provoziert, irgendwann wollte sie mir dann komplett verbieten, rauszugehen, aber..." Ich biss mir auf die Unterlippe, ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Was ist passiert?", fragte er, als ich nicht weitersprach. „Ich bin abgehauen. Und davor habe ich ihnen erzählt, ich wäre schwanger. Und anscheinend haben sie es geglaubt." „Ach du sch..." Er unterdrückte einen Fluch. „Ich glaube, umso länger du nicht mit ihnen redest, umso schlimmer wird es." „Ja, du hast recht. Aber was soll ich sagen? Dass ich ihnen das nur erzählt habe, damit sie sich aufregen und um sie zu provozieren? Damit sie sich schlecht fühlen und denken, sie haben ihre Erziehungspflicht nicht erfüllt? Weil genau deshalb habe ich mir das ausgedacht. Oh mein Gott. Ich habe es schon wieder getan." 

Ich presste meine Lippen fest aufeinander, weil ich das Gefühl hatte, gleich in Tränen auszubrechen. Tränen zu unterdrücken fiel mir nach der langen Zeit allerdings schwerer als gedacht. Und schon rollten sie meine Wangen runter. Schnell drehte ich den Kopf weg, damit Edgar es nicht sah. Yay, perfekter Tag, um zu viel Makeup drauf zu haben. „Was hast du schon wieder getan?" Seine Stimme klang nun sanft. Wieso analysierte ich die ganze Zeit den Klang seiner Stimme? War jetzt ja auch egal. Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Dabei war die Antwort so leicht. „Ich war gemein." Meine Schultern bebten. Seid still, Schultern! Niemand will das sehen! „Weinst du?" Ich schüttelte den Kopf, aber an meinem Schniefen konnte man ganz deutlich hören, dass ich weinte. Halt die Schnauze, Nase! Niemand will dich hören. Aber natürlich gehorchte mir mein Körper nicht und machte einfach weiter. Ich stolperte, als ich auf einmal umarmt wurde. Das war wie in einer kitschigen Liebesgeschichte, wo der starke Held die kleine, schwache und am Boden zerstörte Protagonistin trösten musste und sich die beiden dadurch dann noch näher kamen und dann knutschten sie. Nein, Danke. 

Er umarmte mich fest, nicht so wir-müssen-uns-ja-nicht-so-nahe-kommen-mäßig, sondern eher ich-weiß-dass-du-jetzt-eine-Umarmung-brauchst-mäßig. Und ich umarmte genauso fest zurück. Es war lange her, dass ich das letzte Mal umarmt wurde. Aber es war nicht genauso lange her, dass ich geweint hatte. Eigentlich habe ich vor wenigen Jahren andauernd geweint, um zu bekommen, was ich wollte. Ich hatte aber nicht wirklich geweint. Es waren auch Wuttränen dabei gewesen, ich hatte trotzdem eher so getan. Aber in genau diesem Moment kam alles wieder hoch, was ich in den letzten Jahren an negativen Emotionen hatte, aber nicht hatte fühlen können. Und ich heulte mir an seiner schwarzen Winterjacke die Augen aus, während er mir beruhigend über den Rücken strich und mich sanft hin und her wiegte. Und dabei war ich doch selbst Schuld, dass ich weinte. Eigentlich verdiente ich es ja, mich schlecht zu fühlen, aber ich glaube, alleine wäre ich jetzt auseinander gefallen. 

Als ich fertig war, hing mir die Rotze aus der Nase heraus und mein Makeup war entweder komplett verschmiert oder klebte jetzt an seiner Jacke. Zum Glück sah man auf dem Schwarz nichts, ansonsten hätte ich mich auch deshalb schlecht gefühlt. „Danke", sagte ich, während ich meine Taschentücher heraussuchte und mich schnäuzte. „Das galt für die letzten fünf Jahre. Nur, dass du es weißt." Er lächelte nur. „Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie schlimm sieht mein Makeup jetzt aus?" Er überlegte. „Neun und einhalb." Jetzt musste ich lachen. Ich nahm ein weiteres Taschentuch und versuchte, die Schminke wegzuwischen. „Komm, ich helfe dir." Er nahm das Taschentuch und wischte den verlaufene Mascara um meinen Augen weg. Okay, das war jetzt schon wieder Liebesgeschichten-Klischee. Wah. 

„Danke", sagte ich wieder. „Und jetzt rufe ich meinen Vater und meine Tante an und sage ihnen, dass es mir leid tut." So ein Nach-Schluchzer schüttelte mich. So einer, den ein kleines Kind hat, das nicht das bekommen hat, was es wollte, aber nun doch zufriedengestellt wurde. Ich schnäuzte mich noch einmal, dann schaltete ich mein Handy wieder an. Ich atmete tief durch, während ich den Kontakt meiner Tante heraussuchte und es Klingeln ließ. Sie hob beim dritten Mal ab. „Wo bist du??!" Sie schrie beinahe. „Ich bin auf dem Friedhof." „Komm sofort nach Hause." „Ich kann nicht. Ich kann gerade nicht. Ich..." „Bitte." Nun war sie erstaunlich ruhig. „Ich brauche noch einen Moment. Aber dann komme ich nach Hause, versprochen." Sie schwieg. „Es stimmt nicht", sagte ich. „Du bist nicht schwanger?" „Nein." „Oh, Gott sei dank!" Sie klang ehrlich erleichtert. „Und es tut mir auch furchtbar leid, das euch erzählt zu haben. Ihr wisst nicht, wie sehr. Und all die anderen Dinge, die... die ich... zu euch gesagt habe." Mann, konnte ich mich nicht mal zusammenreißen? Ich hatte schon wieder angefangen, zu heulen. „Es ist in Ordnung." Es klang beinahe so, als würde sie es so meinen. „Nein, ist es nicht!" Edgar zog mich wieder an sich, sodass er mich nun von der Seite umarmte. „Weil die Welt sich nicht um mich dreht. Ich weiß nicht, wann das endlich in meinen dummen Kopf reingeht." „Es ist alles gut. Beruhige dich und komm dann bitte nach Hause. Dein Vater macht sich unglaubliche Sorgen." „Okay." Sie legte auf und auch ich bekam meinen Daumen auch irgendwann dazu, den roten Knopf auf meinem Display zu treffen. 

Ich heulte wieder in seine Jacke hinein. Als mein Gesicht schon wehtat, schnäuzte ich mich wieder und wischte auch die Tränen aus meinem Gesicht. „Jetzt sehe ich wenigstens endlich, wie du ohne Makeup aussiehst." „Jetzt muss ich ohne nach Hause", seufzte ich. „Da werden die Leute was zu gucken haben." „Also, da wäre noch die Möglichkeit..." Er zog einen Eyeliner aus seiner Jackentasche und ich sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Den Eyeliner, nicht Edgar, obwohl das auch eine Möglichkeit gewesen wäre. „Darf ich?" Ich nickte. Er nahm mich an der Hand und zog mich zu einer Bank etwa fünf Meter weiter. Dort setzten wir uns beide seitlich hin und er begann, mit seinem Flizstift-Eyeliner um meine Augen herum zu malen. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich ihm dabei vertrauen sollte, aber ich ließ ihn einfach machen. Seine Hand lag weich auf meinem Gesicht, seine Hand- und Fingerknochen drückten nicht unangenehm auf meine Haut. Sein konzentriertes Gesicht war nicht weit von meinem entfernt, ich konnte seinen Atem spüren. Ab und zu sagte er mir, dass ich die Augen aufmachen oder schließen sollte. Es dauerte einige Minuten, bis er fertig war. „Ich bin mir nicht sicher, ob es ganz dasselbe ist, aber ich habe es versucht." Ich nahm mein Handy heraus und benutze die Selfie-Kamerafunktion als Spiegel. Es sah beinahe genau so aus, wie ich es heute morgen gemacht hatte. Nur besser. „Willst du mich heiraten?" „Wir sprechen uns noch einmal, wenn du volljährig bist." Er grinste und ich umarmte ihn. „Danke." 

Mortalis (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt