🃏 Kapitel 26 🃏

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Mitfühlend blickend wählte die Frau im Sekretariat die Telefonnummer meiner Tante. Ich stand schüchtern vor ihrem Schreibtisch und betrachtete den Kalender an der Wand, während sie darauf wartete, dass jemand abnahm. „Hallo, Augustine Wolff hier?", meldete sich die aufgesetzt freundliche Stimme meiner Tante durch den Lautsprecher. „Schönen guten Tag, Anne-Frank-Schule hier. Leonore Lindner hat Bauchschmerzen und möchte sich gerne abholen lassen." „Kann sie die beiden Stunden nicht noch in der Schule bleiben?" Ich schüttelte heftig den Kopf, um der Sekretärin zu verdeutlichen, dass ich auf gar keinen Fall länger bleiben konnte. „Ich fürchte, sie muss umgehend nach Hause, bevor ein Unglück geschieht. Das arme Kind ist ganz blass." „Dann soll sie sich nicht immer diese schreckliche Farbe ins Gesicht schmieren. Aber ich bin in einer Viertelstunde da." Ich atmete auf. „Vielen Dank. Auf Wiederhören." Meine Tante legte ohne Verabschiedung auf. Mit hochgezogenen Augenbrauen stellte die Frau das Telefon in die Ladestation. „Du hast deine Sachen noch im Klassenraum?" Ich nickte.

Zehn Minuten später hatte ich einen Lehrer gefunden, der mir den Klassenraum aufschloss und saß mit meinem Rucksack im Sekretariat. Die Sekretärin lächelte mich regelmäßig freundlich an und ich zog die Mundwinkel jedes Mal ein wenig hoch, um nicht unhöflich zu sein. Es war eine peinliche Situation. Meine Tante verspätete sich etwas, aber das war gut, denn der Unterricht hatte nun schon angefangen und ich würde niemandem mehr auf dem Pausenhof begegnen, den ich kannte. Besonders vier Personen wollte ich am liebsten nie wieder sehen. Fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn kam meine Tante ins Sekretariat gestürmt. Ein paar Zettel an der Pinnwand bewegten sich vom Luftstoß, den sie verursachte. Meine Güte, hatte die Frau Temperament. Die Sekretärin lächelte sie professionell an, versteckte sich dabei aber heimlich hinterm Schreibtisch. "Hast du deinen Kram? Gut, dann können wir ja gehen." "Schönen Tag noch und gute Besserung." Ich winkte schnell und rannte dann hinter meiner Tante her, die schon wieder im Gang war. "Warte", japste ich. "Wehe, dir ist nicht wirklich schlecht", sagte sie eiskalt, verlangsamte ihr Tempo aber kein bisschen. "Ich muss wieder auf die Arbeit, also beeil dich."

Sie saß schon angeschnallt im Auto, als ich die Tür öffnete und mich japsend auf den Beifahrersitz fallen ließ. "Warum bist du so schnell?", keuchte ich. "Warum bist du so langsam?" Ich hielt den Rest der Fahrt über einfach die Klappe und sie fuhr in halsbrecherischem Tempo durch zugeparkte Straßen. Ich wette, sie hätte ihren Führerschein abgenommen bekommen, wenn die Polizei sie erwischt hätte. Mir war nun wirklich schlecht vom Herumgekurve und auch ein bisschen vor Angst, dass jemand herausfand, was vorhin passiert war. Es war ein ekelhaftes Gefühl. Meine Tante wollte mich mit dem Haustürschlüssel vor unserer Haustür absetzten. "Kann ich mitkommen in den Laden?", fragte ich. Ich sah sie flehend an. Ich wollte jetzt nicht alleine sein, meine Gedanken begannen, toxisch zu werden und mich zu vergiften. Sie sah aus, als wollte sie mich zurechtweisen, aber dann wurde ihr Blick etwas weicher. "Na gut. Ausnahmsweise." Ich war erstaunt, dass das so einfach ging.

"Bist du wirklich krank?", fragte sie auf der Fahrt zum Laden. "Was?" "Ich möchte wissen, ob du wirklich krank bist oder ob du schwänzt." Ich gab keine Antwort. "Also bist du nicht wirklich krank." Sie schimpfte nicht, sie schien auch nicht aufgebracht. Vermutlich hob sie sich das für später auf. Im Laden gab sie mir einen Stapel Schuhkartons und wies mich an, diese in die jeweiligen Kategorien zu sortieren. Ich führte diese Arbeit gerne aus, dankbar für die Ablenkung. Es gab viel zu schnell nichts mehr zu tun und ich putzte im Lager, bis meine Tante ging. Auf dem Rückweg ging sie einkaufen und ich half ihr. Zuhause setzte ich mich mit einer Häkelnarbeit aufs Sofa und kuschelte mich in eine Decke, während sie kochte. Ich setzte mich eigentlich nie aufs Sofa, sondern aufs Bett, aber ich wollte nicht alleine mit meinen Gedanken in meinem Zimmer sitzen. Ich hatte Angst vor dem, was in meinem Unterbewusstsein brodelte. Lieber wollte ich es ignorieren, diesen Selbstekel und die Gedanken der Wertlosigkeit. Ich war mir nicht sicher, ob ich mit dem umgehen konnte, was heute geschehen war.

Meine Tante setzte sich mit einem Tee neben mich aufs Sofa. "Hast du Liebeskummer?" Erstaunt ließ ich meine Häkelarbeit sinken. "Wie kommst du darauf?" "Nur so. Du wirkst, als wärst du traurig. Wenn du drüber reden willst..." Ich schüttelte den Kopf. "Ich habe keinen Liebeskummer." "Okay." Sie gab sich Mühe, fiel mir auf. Sie versuchte, für mich da zu sein. Und im Moment schätzte ich ihre Anwesenheit. "Danke", sagte ich leise. "Wofür?" "Dass du mich heute abgeholt hast, mich mitgenommen hast, dich zu mir gesetzt hast." Sie rührte ihren Tee um. "Kann es sein, dass du ein bisschen einsam bist?" "Manchmal." Ich häkelte, ohne aufzusehen. "Und die Person vom Friedhof?" Ich zuckte mit den Schultern. "Hat die auch einen Namen?" "Vielleicht." "Triffst du dich mit ihr?" "Manchmal." "Du bist wirklich gesprächig." "Ich weiß." Sie seufzte. Ich häkelte. Bis mein Vater kam und wir aßen, wechselten wir kein Wort mehr.

Es war noch am selben Nachmittag, wo mein Vater einen Anruf bekam. Als er mich ins Wohnzimmer rief, wusste ich, dass das mein Ende war. „Leonore, die Schule hat gerade angerufen." Ich schluckte. Das war es. Ich würde sterben. Meine Tante tauchte augenblicklich in der Tür auf. Sie versperrte mir damit meinen Fluchtweg. Es gab kein Entkommen mehr. Ich atmete tief durch und stellte mich unwissend. „Weswegen?" „Gab es heute irgendwelche Vorkommnisse?" Oh nein. Ich sollte ihm jetzt auch noch erzählen, was passiert war? „Weiß nicht." „Was weißt du nicht?" Ich hasste diese Fragerei. Wieso fing er nicht gleich damit an, mir den Kopf abzureißen? „Ich weiß nicht, was sie dir erzählt haben." „Du hättest eine Jungsgruppe bedroht und einem von ihnen ins Gesicht geschlagen." Ich schwieg. Natürlich hatten sie die Geschichte umdrehen müssen. Und jeder würde ihnen glauben. Ich glaubte mir selbst nicht einmal, dass ich mich nur verteidigt hatte. Und ich wollte auch nicht erzählen, was wirklich passiert war. „Hast du irgendetwas dazu zu sagen?" „Nichts zu meiner Verteidigung." Ich zupfte nervös an meinem Rock herum. Ungläubig schüttelte meine Tante den Kopf. „Ich kann es kaum glauben. Ich dachte, du würdest gerade Fortschritte machen, dich mit anderen anfreunden und jetzt das." Hilfesuchend sah sie meinen Vater an, doch auch er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Ich möchte das nicht glauben. Was genau ist heute in der Schule passiert?" Ich kniff nur die Lippen zusammen und hielt meinen Kopf gesenkt. „Sie wollen dich von der Schule suspendieren, wenn du nichts dagegen zu sagen hast oder dich bei den Jungen entschuldigst." Ich fühlte mich unglaublich gedemütigt. Entweder ich erklärte ihnen, warum ich nicht wollte, dass sie Ärger kriegten für das, was geschehen war, oder ich gab sogar zu, dass ich verdient hatte, so behandelt zu werden. Ich kniff die Augen zusammen, damit keine Träne herauskullern konnte. Egal wie ich mich entschied, es würde schlimmer werden. „Leonore?" Die Stimme meiner Tante war plötzlich sanft. „Warum möchtest du uns nicht erzählen, was passiert ist?" Sie griff nach meinem Arm, aber ich zog ihn weg und verschränkte sie vor meiner Brust. „Ich möchte einfach nicht. Könnt ihr nicht meine Privatsphäre respektieren?" Mein Vater atmete hörbar durch. „Schau mal, natürlich darfst du Dinge für dich behalten. Aber es gibt gute Geheimnisse und schlechte Geheimnisse und wenn du schlechte Geheimnisse für dich behältst..." Ich unterbrach ihn. „Ich habe keine Geheimnisse. Ihr wisst, was passiert ist. Ich möchte einfach nur nicht drüber reden." Mit diesen Worten stand ich abrupt auf und verließ das Zimmer. Ich hielt an mich, um nicht die Tür hinter mir zu knallen. Dennoch drehte ich den Schlüssel in der Tür, bevor ich mich auf meinem Bett zusammenrollte. Ich griff nach Davie. Jetzt erst ließ ich die Tränen fließen.

Mortalis (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt