🌘 Kapitel 10 🌖

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Ich war mir so überhaupt nicht sicher, was mich zuhause erwarten würde. Ich wusste nur, dass ich keine Angst vor ihren Strafen hatte. Ich hatte sie verdient. Aber es gab drei Dinge, denen ich mir absolut sicher war: Erstens, Edgar war ein Vampir. Zweitens, ein Teil von ihm - und ich wusste nicht, wie mächtig dieser Teil war - dürstete nach meinem Blut. Und drittens, ich war bedingungslos und unwiderruflich in ihn verliebt. Nein, Spaß beiseite - mir war klar, dass ich auf dem besten Weg war, mich Hals über Kopf in Edgar zu verlieben. Und ich hatte keine Ahnung, ob das gut oder schlecht war. Ich hatte nur eine leise Vermutung, dass auch Edgar sich in mich verlieben würde, wenn er es nicht schon getan hatte. Nur, wann würde sich herausstellen, ob ich richtig oder falsch lag? Ich wünschte mir Bestätigung, aber ich hatte auch Angst, dass alles viel zu schnell ging. Es ging mir jetzt schon zu schnell, ich kannte ihn erst seit ein paar Tagen und schon hatte er mein Leben und mich auf den Kopf gestellt. Aber hatte ich das vielleicht auch mit seinem gemacht? 

Als ich unten die Tür aufschloss, war mir nun doch ein wenig mulmig. Aber als ich oben die Wohnungstür aufschloss, kam mir wenigstens nicht direkt ein Donnerwetter entgegen. Ich zog Schuhe und Mantel aus, wusch mir die Hände, hängte meinen Beutel an meine Türklinge und folgte meiner Tante in die Küche, wo mein Vater mit bedrückter Miene saß. Dieser Blick war herzbrechend. Ich ließ mich auf einen Stuhl fallen. „Es tut mir so leid", wiederholte ich, was ich schon am Telefon gesagt hatte. „Es ist gut, dass du deinen Fehler einsiehst." Ich hätte meiner Tante dafür gerne irgendeine Beleidigung oder Beschuldigung an den Kopf geworfen, aber ich würde mich deshalb schlecht fühlen, ich konnte ihre Gefühle nicht noch einmal verletzen, wie ich es schon so oft getan hatte, und es kam mir furchtbar kindisch vor. Was weiß ich, woher plötzlich der erwachsene Trieb gekommen war. „Ich weiß, dass ich das, was ich gemacht habe, niemals wieder gut machen kann, aber ich kann nur sagen, dass ich alles, was ich euch an den Kopf geworfen oder erzählt habe, damit ihr euch schlecht fühlt, zurücknehmen möchte." „Aber das hast du doch gar nicht gemacht", widersprach mein Vater mir. Ich konnte ihn nicht ansehen. „Du hast es nur nicht bemerkt. Ich kann nicht fassen, dass ich das war, dass mein Kopf dazu imstande ist, sich so etwas auszudenken. Es tut mir so, so leid." Ich schloss die Augen, denn ansonsten würde ich schon wieder anfangen, zu heulen. Nicht noch einmal würde ich Wasser aus meinen Augen mein Makeup zerstören lassen, vor allem nicht, weil Edgar es gemacht hatte. Mein Vater war aufgestanden und umarmte mich. Ich fragte: „Was ist meine Strafe?", aber meine Tante meinte: „Dein Gewissen scheint Strafe genug zu sein. Aber es bleibt dabei, dass du zum Mittagessen nach Hause kommst und um vier Uhr nachmittags wieder hier bist." Damit konnte ich leben. Ich würde Edgar weiterhin treffen können. 

In meinem Zimmer setzte ich mich an meinen Schminktisch und betrachtete die präzisen und perfekt betonten Linien, die Edgar gemalt hatte. Dann schminkte ich vorsichtig den Rest nach. Man sah noch ein wenig die Spuren des verlaufenen Mascaras, aber das konnte ich nicht wegmachen, ohne den Rest zu zerstören. Egal. Ich berührte mein Gesicht an den Stellen, an denen Edgars Hand auf meiner Haut gelegen hatte. Ich erinnerte mich an seinen Geruch, er hatte süß, aber auch bitter gerochen. Es war die perfekte Mischung daraus gewesen. Ich hatte nur versucht, diesen Gedanken zu ignorieren, weil - ja, es war schon wieder so klischeehaft und ich hatte meine dummen Teenagerhormone nicht noch anstacheln wollen. Also versuchte ich, seinen Geruch zu vergessen. Der Geruch war immer am schlimmsten, wenn man verliebt war. Er machte einen verrückt. 

Ich versuchte mich, mit dem Klavier abzulenken. Ich hatte früher Klavier gespielt, aber ich hatte es schon beinahe wieder verlernt. Als ich nun den schweren Deckel anhob und mein Notenheft auf die ausklappbare Vorrichtung stellte, hatte ich beinahe so ein Gefühl, wie wenn ich durch die Friedhofstore ging. So eine Vorfreude, ein leichter Schauer, dann ein Gefühl, als würde man in eine fremde Welt eintauchen. Nur waren es beim Friedhof die hohen Mauern, die den Lärm schluckten, hier war es der Vorklang der Musik, diese Stille vor einem Stück. Ich schlug das Heft auf und begann mit etwas scheinbar leichtem. Ich brauchte ein wenig, um mich zurechtzufinden, was der Melodie dann etwas ihren Zauber nahm, aber es war immer wieder das selbe stolze Gefühl, wenn man eine Stelle fehlerfrei gespielt hatte. Ich übte, wie es mir meine damalige Klavierlehrerin erklärt hatte: Schwierige Stellen wiederholen, bis sie klappen, dann noch einmal von vorne. Nur gab es von den schwierigen Stellen ganz schön viele. Nach einer halben Stunde klappte ich entnervt den Deckel wieder zu. „Das klang schön", meinte mein Vater, dem ich im Flur auf dem Weg in mein Zimmer begegnete. „Danke", sagte ich leicht monoton. Ich selbst hatte es furchtbar gefunden. Aber vielleicht würde ich es eines Tages wieder einigermaßen akzeptabel spielen können. 

Ich lag auf dem Bett und hörte Shadow Image. Ich erinnerte mich daran, wie ich das Album Edgar vorgespielt hatte. Okay, kein Edgar mehr. Ich suchte eine andere Band heraus. Dann hörte ich jetzt meinetwegen Sisters Of Mercy. Aber auf die hatte ich auch keine Lust. Was war los? Okay. Dann eben was melodischeres. The Cure? Nein, ich wollte was mit mehr Show. Seufzend suchte ich Nightwish heraus. Ich mochte diesen lauten Heavy-Metall-Sound eigentlich nicht so. Nein, immer noch nicht. Ich fand in meiner Bibliothek endlich etwas, bei dem ich mich entspannen konnte: Das gute, alte London after Midnight. Nein, ich brauchte eine Playlist. Ich suchte lange, bis ich eine passende Playlist fand. Jetzt aber. Ich stellte die Musik lauter. Aber mein Gehirn konnte sich nicht vollständig der Musik hingeben. Ich stand auf und lief hin und her, aber ich musste mich noch mehr bewegen. Ich tanzte ein wenig. Ja, genau das brauchte ich jetzt. Ich musste tanzen. Nur, ich konnte überhaupt nicht tanzen. Egal, ich konnte ja so tun. 

Ja, nach zehn Minuten war das auch wieder langweilig. Ich machte mich bettfertig und legte mich ins Bett. Gute Entscheidung, hier konnte mein aufgedrehtes Gehirn endlich zur Ruhe kommen. Dachte ich. Ich schmiss mich hin und her. Ich machte irgendwann eine Einschlafübung, die auch ein wenig wirkte. Ich zählte Schäfchen, strampelte die Decke weg, deckte mich wieder zu, holte mir um elf Uhr ein Glas Wasser und legte mich auf meinen Fußboden. Hier wurde ich endlich müde, aber im Bett war ich dann wieder zu wach. Ich weiß nicht wie, aber ich habe es dann doch irgendwann geschafft, einzuschlafen. Und am nächsten Morgen wachte ich um sechs Uhr auf. Ich wollte nicht wach sein, Hilfe! Es war draußen noch dunkel und ich war todmüde. Ich ging aufs Klo und versuchte danach, wieder einzuschlafen - erfolgreich. Ich wachte zwei Stunden später wieder auf, diesmal etwas ausgeschlafener. 

Ich brauchte nicht so lange zum Anziehen und zum Schminken, heute wagte ich auch wieder ein paar Punkte und Sternchen zum normalen Augen-Makeup. Aber meine Haare standen mir vom Kopf ab. Ich hatte sie gestern nach dem Duschen nicht gekämmt, wie so oft auch, aber das viele hin und er wälzen hatte sie vollkommen verknotet. Ich brauchte ein wenig, um das Vogelnest auf meinem Kopf aufzulösen, aber ich schaffte es schließlich. Ich schlief selten so schlecht, aber gestern war ja ein wenig chaotischer, als ich das gewöhnt war in letzter Zeit. Mein Vater und meine Tante waren noch nicht wach, was ungewöhnlich war, also deckte ich einfach schon einmal den Tisch. Ich machte das sonst nie, ich hatte mich vorher nie irgendwie am Haushalt beteiligt, nur meine eigenen Sachen weggeräumt. Ich machte mir ein Müsli, weil ich keine Lust auf Brot hatte. Sie standen erst auf, als ich schon fertig war und wieder in meinem Zimmer war. Ich kam in Mantel und mit meinem Beutel in die Küche, um ihnen guten Morgen zu sagen und mich zu verabschieden. „Wo willst du denn so früh hin?", fragte meine Tante. „Ähm... wir haben halb neun", sagte ich mit einem Blick auf die Uhr. Okay, ich war schon etwas früh dran, aber sie waren auch sehr spät für ihre Verhältnisse. Irgendetwas lag in der Luft. Meine Tante hatte noch ungekämmte Haare, mein Vater trug noch seinen Schlafanzug, der etwas zerknittert aussah. Er sollte ihn mal öfter wechseln. Ich sah zwischen ihnen hin und her, ich wusste aber nicht, was es war. „Ich geh dann mal." 

Mortalis (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt