🏰 Kapitel 19 🏰

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Irgendetwas polterte laut. Ich blinzelte und fand mich in meinem Bett wieder. Das poltern kam von der Tür. "Leonore, wir haben halb elf. Du kannst nicht so lange schlafen, die Schule fängt in ein paar Tagen wieder an und dann musst du wieder früh aufstehen." Die schrille Stimme war unverkennbar die meiner Tante. Das konnte ich selbst in einem Zustand erkennen, den man nicht einmal Halbschlaf nennen konnte. Sie hörte aber nicht auf, gegen die Tür zu hämmern. "Verdammt, ich bin ja wach!" Ich warf irgendetwas nach der Tür, das sich als Häkelnadel herausstellte. Ich verfehlte knapp und die Häkelnadel landete auf der Kommode neben der Tür, doch sie rutschte über die Oberfläche und fiel dann dahinter. "Heiliger Krötenfurz von Salem", fluchte ich, ohne zu wissen, was das überhaupt bedeuten sollte.

Ich kramte meine Kopfhörer heraus und drehte die Musik laut auf. Ich setzte mich vor den Spiegel und kämmte meine Haare, dann schminkte ich mich. Dabei fiel mir ein, wie Edgar meinen Eyeliner gemacht hatte. Von ganz allein bewegten sich die Mundwinkel meines genervten Gesichtes nach oben. Ob er heute wieder da sein würde? Wahrscheinlich. Ich hoffte so sehr, dass er da war, aber gleichzeitig hatte ich auch unglaubliche Angst. Nein, Angst war das falsche Wort. Aber ein besseres Wort fand ich nicht, um dieses beklemmende Gefühl der Aufregung und Sorge zu beschreiben. Aber dieses Gefühl wurde von einem anderen überschattet. Ich konnte es nicht genau benennen, aber es war purer Enthusiasmus gemischt mit dem Gefühl, zu fliegen und zu fallen.

"Wir haben dir nichts aufgehoben, du musst dir selber Frühstück machen." War ja klar. Ich öffnete die Küchenschränke, aber irgendwie hatte ich überhaupt keinen Hunger. Ich nahm schließlich einfach nur einen Apfel und schnitt ihn in Stücke. So musste ich ihn nicht aufessen, falls ich ihn nicht komplett essen wollte. Ich aß den Apfel an meinem Schreibtisch, wo ich noch ein wenig zeichnete. Als meine Tante dann in der Küche das Radio anstellte, ergriff ich die Flucht. Ich hasste die Sender, die meine Tante hörte. Ich packte neue Wolle ein und meine Decke und dann war ich weg. Niemand erwiderte meine Verabschiedung, wie für gewöhnlich und wie für gewöhnlich wechstelten manche Leute die Straßenseite, als sie mich sahen. Als ob ich sie essen würde, wenn sie zu nahe kamen. Oder sie anstecken würde. Bei der Idee davon musste ich grinsen.

Wie ein Alien stiefelte ich also durch die langweilige Normalität und häkelte im Bus wie eine alte Frau. Nur sah ich nie alte Frauen, die häkelten. Und auch sonst niemanden, der irgendeine Handarbeit unterwegs machte. Aber meine Mutter hatte auch immer unterwegs gehäkelt. Kurz vor meiner Haltestelle packte ich zusammen. Auf dem Weg zum Friedhof klaute ich ein paar Kisel aus einem Blumenbeet, ich packte sie in meine schon vollkommen überfüllte Tasche. Mit jedem Schritt wurde ich nervöser. Was, wenn er nicht da war? Was, wenn er da war? Wieso machte ich mir überhaupt so viele Gedanken? Ich würde jetzt einfach durch diese Tore laufen und geschehen lassen, was geschehen sollte.

Als ich Edgar nicht an unserem üblichen Platz - den hatten wir? - sitzen sah, war ich ein wenig enttäuscht, was ich mir selbst nicht eingestehen wollte. Ich setzte mich hin und häkelte weiter. Wenn er nicht in der nächsten halben Stunde kommen würde, würde ich nicht mehr auf ihn warten, weil ich hier sonst bis Sonnenuntergang warten würde. Gott, dieser Junge machte mich verrückt. Auf zwei verschiedene Weisen. Weil er einfach nicht kam und ich nun hier warten musste, und weil ich so sehr wollte, dass er kam. Wieso wollte ich das eigentlich so sehr? Wie hatte er es geschafft, mich in ein paar Tagen vollkommen auf den Kopf zu stellen? Genervt ließ ich mich nach hinten auf die Grabplatte sinken und blinzelte gegen die Sonne, die sich doch an manchen Stellen einen Weg durch die dichten Äste gebahnt hatte.

Natürlich kam er nicht innerhalb der nächsten halben Stunde. Es war aber schon nach halb zwölf und ich musste zum Mittagessen nach Hause. Den Bus hier hatte ich verpasst, also musste ich zehn Minuten zur nächsten Haltestelle laufen und dort noch mal fünfzehn Minuten auf den nächsten Bus warten. Das war mit Musik zu ertragen. Ich hoffte nur, dass der Bus dann auch tatsächlich kam. Meine Tante würde mir den Kopf abreißen, wenn ich zu spät kam und ohne Kopf konnte man keine Musik hören. Ich beschloss, nach dem Essen später noch einmal zum Friedhof zu fahren, da ich hoffte, dass er wenigstens dann da war.

Als der Bus kam, fiel mir auf, dass ich so oder so zu spät kommen würde, denn in zwei Minuten war zwölf Uhr und um spätestens zehn nach zwölf sollte ich Zuhause sein. Doch ich würde noch rund zwanzig Minuten fahren müssen, wenn wieder überall Leute aussteigen wollten und den Stoppknopf drückten. Wenigstens war heute kein Schultag, ansonsten hätte ich hier auch noch eine Dreiviertelstunde dringesessen. Tatsächlich fuhr ich nur siebzehn Minuten, was bedeutete, dass ich schon fünf Minuten über dem absoluten Limit war und nun sehr schnell laufen musste. Ich verabschiedete mich in Gedanken schon einmal von meinem Kopf und dem Oberen Halsabschnitt. Wehmütig hörte ich meinen letzten Song, während ich die Treppe hochkam.

Ich bedurfte nicht einmal der Klingel, die Tür wurde schon geöffnet, als ich mich noch auf der Zwischenebene befand und gerade schnaufend den letzten Treppenabsatz zu erklimmen gedachte. Majestätisch und doch roh stand sie da und blickte mir so kühl wie eine Tote entgegen. Ich ging vor ihr auf die Knie. "Ich bitte um Vergebung." "Was soll das werden? Das Essen wird kalt. Ich hoffe, du hast eine vernünftige Erklärung für dein Zuspätkommen." Ihrer Stimme war sichtlich die Irritation anzuhören, doch sie klang ebenfalls genervt.
"Natürlich", sagte ich zufrieden und stand auf, um in die Wohnung zu gehen und meine Schuhe auszuziehen.

Der Esstisch war schon gedeckt. Doch nur für zwei Personen, ein Gedeck war schon benutzt. "Wo ist der Herr Papa?", fragte ich, als ich mich setzte. Tante Augustine klatschte mir eine Pampe in den Suppenteller, die sich als Gemüseeintopf identifizieren lies. "Zeig mir mal deine Augen", antwortete meine Tante. Gehorsam sah ich sie an. Sie seufzte. "Keine Drogen, aber eine Nervenklinik wäre vielleicht notwendig. Dein Vater muss heute länger dableiben, da es Probleme mit der Kasse gab. Man möge ja meinen, Buchhaltung sei ein langweiliger Job, aber es ist doch immer überraschend viel los. Christian kommt aber spätestens zum Abendessen wieder."

Beleidigt, dass sie mir Drogen unterstellt hatte und meinte, ich müsste in eine Nervenklinik, zog ich einen Schmollmund und rührte angeekelt in dem Eintopf, in dem wahrscheinlich Stücke der nervigen Nachbarn von oben schwammen, die vor zwei Wochen plötzlich ausgezogen aka verschwunden waren. Meine Tante hatte sie nicht ausstehen können, ich tatsächlich auch nicht. Trotzdem musste ich sie ja nicht essen. Ich hatte sowieso keinen so großen Hunger, obwohl ich heute nicht richtig gefrühstückt hatte. Ob Edgar das essen würde? Ob er gerade überhaupt etwas zu Essen hatte? Ich seufzte tief. "Wenn du keinen Hunger hast, dann schütte es doch einfach zurück. Ich kann den Eintopf auch später wieder aufwärmen." Die Worte waren eigentlich ganz freundlich, aber es klang eher nach "Findest du etwa, ich kann nicht kochen? Du brauchst mir nicht zu demonstrieren, wie ekelhaft du das Essen finsest." Ich nickte. "Ich hab wohl zu viel gefrühstückt." Sie sah mich schief an, aber sagte nichts. Mist, wahrscheinlich hatte sie gemerkt, dass ich nicht viel Geschirr benutzt hatte und dass ich flunkerte.

Zum zweiten Mal an diesem Tag saß ich im Bus zum Friedhof. Samstagnachmittag, halb eins. Nicht einmal eine halbe Stunde war ich Zuhause gewesen. Aber ich musste die Zeit auf dem Friedhof genießen, solange ich es noch dorthin schaffte. Ja, übermorgen fing die Schule wieder an und die Ferien waren vorbei. Eine Welle der Wehmut überkam mich. Die nächste Haltestelle wurde abgesagt und ich stand auf.

Mortalis (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt