☠️ Kapitel 17 ☠️

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Zuhause angekommen versuchte ich, Musik zu hören und etwas zu zeichnen, aber ich musste alle zehn Sekunden auf mein Handy schauen. Minute um Minute verging, ohne dass eine Nachricht auf mein Handy kam. Nach einer halben Stunde war ich schon mit den Nerven am Ende und ließ mich stöhnend aufs Bett fallen. Das würde noch ein langer Tag werden, auch wenn wir schon viertel vor fünf hatten. Nervös schaute ich noch einmal auf mein Handydisplay. Keine Nachricht. Ich legte mich mit dem Kopf ans Fußende des Bettes. Keine Nachricht. Ich rollte mich auf den Bauch. Keine Nachricht. Ich legte mich auf den Bettvorleger. Ich legte die Beine aufs Bett, stand wieder auf, legte mich bäuchlings auf meinen Stuhl, hing kopfüber von meinem Bett, wobei ich im Spiegel zusah, wie mein Kopf immer roter wurde. Ich sortierte meine Socken nach Farbe, dann meine Stifte, ich fing zuletzt aus Verzweiflung sogar an, Lateinvokabeln zu lernen. Puh, war ich schlecht. Ich sollte wahrscheinlich öfter lernen. Latein war tatsächlich eine gute Ablenkung. Die Frustration war zu groß, als dass ich die ganze Zeit aufs Handy schaute. Nur noch alle fünf Minuten. Das war ein Fortschritt. Aber selbst dabei blieb ich nicht lange, nach etwa sechzig Vokabeln schweiften meine Gedanken wieder ab und ich tagträumte vor mich hin.

Mein Vater war schon wieder sonst wo und meine Tante war vorhin losgegangen, um einzukaufen. Ich war alleine zuhause. Als mir das klar wurde, sprang ich auf, lief ins Wohnzimmer und setzte mich ans Klavier. Akkorde gingen immer. Ich schaltete den Laptop meines Vaters ein, stellte ihn aufs Klavier und suchte mir Akkorde zu irgendeinem Song heraus. Ich entschied mich für etwas von Evanescence, weil ich das gut singen konnte. Ich hatte ebenfalls eine ziemlich hohe Stimmlage, kam aber gerade noch tief genug, um den Song vollständig zu singen. Es war eigentlich nicht so, dass ich ein Evanescence-Fan war, aber insgeheim hörte ich mir manchmal ihre Songs an - nur aus Gründen der Weiterbildung, versteht sich. Also schaute ich mir die Akkorde an und lernte erst einmal die, die ich noch nicht konnte, dann schaute ich mir an, welche Akkorde ich umkehren konnte, spielte einmal Strophe und Refrain ohne zu singen und dann sang ich die erste Strophe und den Refrain ohne Klavierbegleitung. Dann fügte ich Klavierakkorde und Gesang zusammen und übte, bis mir langweilig wurde. Anschließend spielte ich meine Lieblings-Playlist und tanzte dazu durchs Wohnzimmer, bis ich nicht mehr konnte und mich aufs Sofa fallen lies, wo ich die Musik über das Handy ein wenig leiser stellte. Ich stellte sie komplett ab, als ich hörte, wie jemand den Schlüssel  in der Tür drehte.

Es war meine Tante. Ich begegnete ihr, als ich über den Flur schnell wieder in mein Zimmer verschwinden wollte, aber meine Zimmertür lag gegenüber von der Wohnungstür, weshalb sie mich natürlich entdeckte. „Ah, hallo Leonore! Ich habe vorhin Jasmin getroffen. Sie ist ganz schön groß geworden, ich habe sie fast nicht wiedererkannt. Wirklich schade, dass ihr euch nicht wieder vertragen habt. Aber so ist das nun mal... Menschen kommen und gehen und alles ändert sich ständig... Und man lernt neue Menschen kennen und kommt anderen näher... Und dann ist alles ganz anders." Ich fragte mich für einen Augenblick, ob sie nüchtern war. Dann drehte ich mich auf der Stelle um und schloss die Tür hinter mir. Ich schloss die Augen, atmete tief durch und machte weiter. Was war das denn bitte schön gewesen?

Tatsächlich hatte mich die Erinnerung an meine ehemalige beste Freundin kurz verunsichert, doch ich hatte mich schnell wieder gefangen. Ich setzte mich wieder an meinen Schreibtisch und fing an zu zeichnen, aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab... Und der Teufelskreis begann von neuem. Ich beschloss, mich einfach aufs Bett zu legen und herumzugrübeln. Ich schob den Gedanken an die Gegenwart und die Erinnerungen meines Lebens in der Realität weg und flüchtete mich in Gedanken an meinen Lieblingsort. Zu meinem Lieblingsmenschen. Ja, von allen Menschen, die ich kannte und die noch lebten, war er mein Lieblingsmensch. Ich weiß, ich sollte mich da nicht so reinsteigern, ich hatte immer noch nicht genug Gründe, ihm zu vertrauen. Aber mein Dickschädel hatte dies anscheinend nich nicht begriffen und träumte weiter von meinen bisherigen Nachmittagen dort.

Es war bestimmt ungesund, so lange an eine einzige Person zu denken. Aber ich schaute trotzdem ständig auf mein Handy, um zu sehen, ob er mir nicht doch noch geschrieben hatte. Nein, keine Nachricht. Ich rollte mich auf die Seite und zog die Knie an. Wer hatte eigentlich gesagt, dass er mir heute noch schreiben würde? Vielleicht würde er mir überhaupt nicht schreiben. Vielleicht würde er mich einfach vergessen und nie wieder kommen und ich wäre wieder ganz alleine auf dieser Welt und niemand würde mich beachten und ich wäre einfach nur das lästige Mädchen ohne Mutter... Stopp. Selbst-toxische Gedanken einstellen und wenigstens einmal heute die Vernunft anschalten. Das hier war so lächerlich. Ich sollte auch ohne irgendeinen Jungen etwas mit meinem Leben anstellen können. Ich sollte aufhören, die ganze Zeit so ein Trauerklos zu sein und sollte anfangen, über meine Zukunft nachzudenken. Ich hatte keine Pläne für die Zukunft und genau das war das Problem. Also beschloss ich, irgendwas im Büro zu machen. Möglichst langweilig und möglichst wenig Kontakt mit Menschen.

Okay, Pläne für die Zukunft zu machen war auch nicht gerade meine Stärke. Ich nahm Davie und sah ihm in seine hellen, blauen Augen, die mich glitzernd anstrahlten. Ich fuhr ihm durch sein weiches, blaues Fell. "Wir werden sehen, was die Zukunft für uns bereithält. Wir werden das zusammen schaffen, nicht wahr?", flüsterte ich. Ich kraulte ihn hinter der Rückenflosse. "Vermisst du eigentlich jemals das Meer?" Manchmal, aber er war meistens mit dem zufrieden, das er hatte, schien er mir sagen zu wollen. Ja, mir war klar, dass ich fünfzehn Jahre alt war, aber durfte ich doch auch noch mit meinem Kuscheltier sprechen? Wenn Leute mit Tieren sprachen, dann war das doch eigentlich mit Kuscheltieren nicht so viel anders. Die Tiere verstanden auch kein Wort von dem, was man ihnen erzählte. Es war der Mensch, der sich dann nicht mehr so einsam fühlte.

Mein Vater kam nach Hause und ging in die Küche, das hörte ich alles bei geschlossener Tür. Er redete mit meiner Tante über seinen Tag. Das tat er nie mit mir. Ich war nicht eifersüchtig, es war einfach nur eine Feststellung. Ich hörte wieder Musik und wartete darauf, dass es Abendessen gab. Ich schaute trotzdem gelegentlich, ob ich nicht doch eine Nachricht bekommen hatte. Zugegeben war ich jedes Mal etwas enttäuscht. Als meine Tante mich zum Abendessen rief, nahm ich mein Handy mit und setzte mich drauf, damit meine Tante es nicht sah. Ich war wie besessen davon, eine Nachricht von ihm zu bekommen. Ich aß sehr schnell und war so schnell wie möglich wieder in meinem Zimmer. Nachdem ich mir eine passende Playlist gesucht hatte, setzte ich mich ans Fenster. Und in dem Moment, in dem der Song Friday I'm In Love anging, vibrierte mein Handy vor mir auf der Fensterbank. Das war ein Zeichen, heute war Freitag.

Hi

Hier ist Edgar

Ich war kurz davor, zu hyperventilieren, aber ich schaffte es trotzdem, zu antworten.

Welcher Edgar? Meinst du den süßen Jungen vom Friedhof?

Es brauchte etwas Mut, diese Nachricht abzuschicken. Aber ich schaffte es trotzdem, als ich mich an heute Nachmittag erinnerte. Wir hatten da ja auch kurz auf diese Art herumgealbert.

Ja, genau der. Der schlaue mit dem Buch.

Das er eventuell sogar lesen kann.

Du bist fies. ; )

Ich weiß.

Einen Moment schrieb niemand etwas. Ich hatte schon Angst, dass es das gewesen war. Aber dann summte mein Handy wieder:

Hast du WhatsApp?

Nein, darf ich noch nicht, meine Tante nimmt das mit der Altersfreigabe sehr genau. Aber ich habe Signal.

Und das nur wegen meiner Tante, die mit den Häkchen sehen wollte, ob ich ihre Nachrichten gelesen hatte. Tatsächlich bekam ich einen Moment später eine Nachricht aus dem Signal Messenger.

Signal hat Tommi auch.

Wer ist Tommi?

Der, dem das Handy gehört. Ich hab dir ja gesagt, dass ich kein eigenes Handy habe.

Ja, daran erinnere ich mich noch. Du hast nur nie einen Namen genannt. Ist ja auch egal.

Ich sah, dass er tippte, aber er schickte nichts ab. Ich scrollte immer wieder nach unten, um sicherzugehen, dass ich es nicht übersah, falls doch was kam. Als auch das tippen aufhörte, schaltete ich das Display seufzend wieder ab. In der Spiegelung auf der Scheibe konnte ich mein Lächeln sehen. Nein, er würde mich nicht einfach so vergessen.

Mortalis (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt