📻 Kapitel 16 📻

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Ich kam ungesehen in mein Zimmer zurück, wo ich mir dann schließlich etwas zum Anziehen heraus suchte, aber bevor ich mich anziehen konnte, musste ich dringend aufs Klo. Ich flitzte rüber ins Bad. Während ich auf dem Klo saß, hörte ich, wie eine Tür aufging und jemand rauskam und in die Küche ging. Ich fluchte innerlich. Es war bestimmt meine Tante. Egal, ich durfte nicht zu stolz sein, um mich ohne Schminke zu zeigen. Das durfte nicht passieren. Und sollte sie mich meinetwegen auch im Nachthemd sehen. Sie hatte sich ja letztens auch noch nicht umgezogen.

Also schloss ich mich nicht für immer in diesem Bad ein, sondern öffnete die Tür und ging in gemäßigtem Schritt in Richtung meines Zimmers zurück. Die Küche lag direkt neben dem Bad und meine Tante drehte sich zu mir um, als sie mich durch den Flur gehen hörte. "Guten Morgen", sagte sie sichtlich überrascht. Ich spürte, wie sie mich musterte, was ein wenig Unbehagen in mir auslöste. Trotzdem blieb ich aufrecht und mit an den Seiten liegenden Armen selbstbewusst vor der Tür stehen. "Wieso so früh auf?", fragte sie betont gleichgültig, während sie sich wieder dem Kaffeefilter zuwandte und das Sieb nach unten drückte.

Seit unsere Kaffeemaschiene kaputt gegangen war, hatten wir uns auch keine neue zugelegt. Sie hatten sich stattdessen so einen Kaffeefilter bestellt, es war einfach nur eine gläserne Kanne mit einem Filter drin, den man runter drücken musste. "Nicht so gut geschlafen", murmelte ich. Das war nicht mal gelogen. Ohne diesen Albtraum wäre ich niemals um diese Zeit aus dem Bett gekommen. "Willst du einen Tee?", fragte sie mich. Ich nickte, was sie nur zufällig bemerkte, da sie mich nicht anschaute, sondern sich nur leicht umdrehte, um eine Kaffeetasse aus dem Schrank zu holen. Ich setzte mich zu ihr an den Esstisch und wartete, dass der Tee fertig zog, den sie gerade aufgegossen hatte. Sie musterte wieder mein Gesicht. "Du siehst schön aus ohne den ganzen schwarzen Mist im Gesicht", sagte sie. Ich seufzte. "Findest du." "Du etwa nicht?" Ich schüttelte den Kopf. "Ich mag mein Gesicht nicht", gab ich zu. Wieso hatte ich ihr das gesagt? Ich hatte das bisher niemandem erzählt. Oder? Nein, ich glaube, ich habe das bisher nicht mal Edgar erzählt.

Sie schwieg, als ob sie Angst hätte, das falsche zu sagen. Mir fiel in diesem Moment ein, dass mein Nachthemd kurzärmlig war. Eine kurze Welle der Panik überkam mich, dann hatte ich mich wieder einigermaßen gefasst. Meine Tante stand auf, schmiss den Teebeutel weg und stellte mir den Tee hin. Ich bedankte mich und nippte mit zitternden Fingern daran. Er war noch sehr heiß, aber ich verbrannte mich nicht. Ich versteckte meine Hände sofort wieder auf meinem Schoß, nachdem ich die Tasse wieder abgestellt hatte. "Montag ist schon wieder Schule, ne? Unglaublich", meinte meine Tante. Ich nickte stumm. "Zwei Wochen können ganz schön schnell vorbeigehen." Sie sah abwesend auf den Tisch. Ich antwortete ihr nicht, sondern nahm noch einen Schluck Tee. Und wartete ab. Sie drehte die Kaffeetasse auf dem Tisch und sah sie  nachdenklich an. „Und was machst du heute?" Sie schien die Frage nur für den Smalltalk zu stellen, also gab ich auch nur eine Smalltalkantwort. „Ich muss noch was für die Schule machen, eine Präsentation. Aber danach gehe ich vielleicht noch mal zu Mama." Ich spürte, wie ich rot wurde, als ich daran dachte, weshalb ich eigentlich wieder auf den Friedhof wollte. „Aha", meinte meine Tante. Sie schien es mir nicht ganz zu glauben, wahrscheinlich den letzten Teil.

„Darf ich dir mal eine Frage stellen?" Ich schluckte, nickte dann aber doch. In ihrer Stimme klang so etwas wie Vorfreude mit und das konnte ich ihr jetzt nicht nehmen. „Gehst du wirklich immer auf den Friedhof zu deiner Mutter oder ist das nur ein Vorwand?" Sie hatte dieses wissende Grinsen. Ich lief wahrscheinlich noch röter an. „Ein Vorwand für was?" Sie zuckte unschuldig mit den Schultern. „Was weiß ich. Vielleicht... hast du jemanden kennengelernt?" Mein Gesicht brannte feuerrot und hätte beinahe verlegen gegrinst. Okay, Panik: Was sollte ich antworten? „...Vielleicht." Oh nein, falsche Antwort. Aber es war zu spät. „Und wen?" Ich seufzte. „Einen Menschen." „Also kein Tier und kein Toter. Immerhin." Ich musste sogar lächeln. Sie lächelte zurück. Wir tranken beide in Stille unsere Tassen leer und ich verabschiedete mich, um mich jetzt aber anzuziehen. 

Ich war schnell fertig, auch fürs Makeup brauchte ich nicht lange. Ich arbeitete nach dem Frühstück den ganzen Morgen an meiner Präsentation, entschied mich dann aber schließlich um zwei Uhr, endlich auf den Friedhof zu gehen. Der Bus war relativ leer und auch auf den Wegen des Friedhofs begegnete ich niemandem, alles wirkte wie ausgestorben. Ich begegnete keiner Menschenseele, bis ich an einem Baum einen Vampir sitzen sah, der in einem Buch las. Ich setze mich vor ihn und er sah auf. „Hallo", begrüßte ich ihn. Ich fühlte mich unsicher, was man leider auch an meiner Stimme hören konnte. „Ich dachte schon, du kommst nicht." Er lächelte mich mit einem aufmerksamen Blick an, als ob er prüfen würde, ob alles in Ordnung bei mir war. Kein Wunder, ich war in den letzten Tagen zwei Mal vor ihm in Tränen ausgebrochen und hatte ihm meine Lebensgeschichte erzählt, die durchaus etwas verstörend wirken konnte. „Hast du mich vermisst?", fragte ich. Sein Lächeln wurde breiter. „Wie hätte ich dich auch nur einen Moment vergessen können?" Oh mein Gott. Flirtete er mit mir? Oder hatte ich angefangen? Ich habe noch nie geflirtet. Was sollte ich jetzt tun? Vielleicht sollte ich einfach das machen, was ich sonst auch machen würde. Gute Idee. Und Atmen nicht vergessen. 

„Was liest du?" Er seufzte und drehte das Buch um, sodass ich das Cover sehen konnte. „Ich habe mich an Herr der Ringe gewagt. Aber das Buch ist schwieriger, als ich gedacht habe." Er runzelte die Stirn. „Ich habe gestern angefangen und erst achtundfünfzig Seiten geschafft. Ich habe vorher noch keine alten Bücher gelesen, außer eins für die Schule." „Echt nicht? Ich mag die Bücher von früher total gerne, oder welche, die früher spielen", erzählte ich. „Echt? Ich lese eigentlich nicht so viel, sondern höre Musik." „Ich auch, aber in den Ferien überkommt mich ab und zu das Lesefieber, oder auch mal dazwischen." Wir unterhielten uns weiter über Bücher und das Lesen, mir fiel aber irgendwann ein, dass ich um vier wieder zu Hause sein musste und schaute von da an ständig auf die Uhr. „Musst du los?", fragte Edgar. „Noch nicht, aber ich muss um vier wieder zuhause sein. Also muss ich den Bus um halb vier kriegen." „Schade." Er schien tatsächlich enttäuscht zu sein. Aber sein Gesicht hellte sich sofort wieder auf, als ich seine Hand nahm. Einen Moment saßen wir einfach da und hielten die Hand des anderen, unter einem Baum an einem Frühlingsnachmittag in den Ferien auf einem Friedhof. Es war schräg, aber nicht schräg genug, um komisch zu sein. 

„Mir ist heute morgen etwas eingefallen. Ich habe deine Telefonnummer gar nicht", sagte er auf einmal. „Stimmt." Mit meiner freien Hand griff ich in meinen Beutel und kramte darin so lange, bis ich einen Stift fand. Es war einer meiner Zeichenstifte, aber er war vollkommen ausreichend. Er schlug die erste Seite seines Buches auf, damit ich hineinschreiben konnte - ohne meine Hand loszulassen. Allerdings hielt er meine rechte Hand und ich war keine Linkshänderin. „Ähm... Können wir die Handseiten tauschen? Ich bin Rechtshänderin." Er ließ meine Hand los, ich wechselte den Stift und er nahm meine linke Hand. Dann lachten wir beide. Der Bleistift kratzte vertraut auf dem Papier, als ich die Zahlen aufschrieb. Am Schluss zögerte ich, doch dann malte ich noch schnell ein Herz dazu und schlug das Buch zu. Wir lachten wieder. 

Doch bald war meine Zeit um und ich musste los. „Kommst du morgen wieder?", fragte Edgar. „Ich versuche es. Aber... Hast du überhaupt ein Handy?" „Ehrlich gesagt nein. Ich mache alles vom Handy meines Kumpels aus, bei dem ich wohne. Und der bekommt ganz schön viele Nachrichten von seiner Freundin. Meines ist kaputt gegangen." „Oh. Aber du kannst mir dann ja einfach mal schreiben, damit ich seine Nummer einspeichern kann, damit ich dich erreichen kann. Das klang gerade irgendwie kompliziert." Wir lachten beide wieder und ich war im Begriff aufzustehen, kniete mich dann aber doch noch einmal hin und gab ihm einen schnellen Kuss auf die Wange. Mein Herz schlug mir bis zum Hals - albernes Sprichwort, aber in diesem Moment einfach zu wahr - und ich stand schnell wieder auf. Die Albernheit war aus seinem Gesicht verschwunden, stattdessen sah er nun überrascht aus. War ich zu weit gegangen? „Tschüss", meinte ich nervös. Als er wieder lächelte, fiel mir ein Stein vom Herzen. „Tschüss." Ich drehte mich um und ging mit noch wackeligen Knien vom eben entstandenen Stress den Weg zum großen Tor und dann zur Bushaltestelle.

Mortalis (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt