🐉 Kapitel 8 🐉

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Ich ließ meine Nägel trocknen und sah aus dem Fenster. Im Licht der Straßenlaternen sah man, dass es regnete. Ich mochte Regen. Es war schon lange dunkel draußen und auch in meinem Zimmer war nur die Lichterkette um mein Himmelbett herum an. Es war so schön still, man hörte nur den Regen draußen leise tropfen und klopfen, die Uhr leise ticken und im Wohnzimmer leise den Fernseher laufen. Ich dichtete ein wenig vor mich hin - oder versuchte das zumindest.

Stille in ruhigen Abendstunden,

Die Uhr an der Wand tickt die Sekunden.

Der Regen fällt wie Tränen vom Himmel

Sind es oben die weinenden Engel?

Singen sie oben ihr trauriges Lied, 

Das man vor Regen nicht hört: „Nimm Abschied"?

Wer ist schon wieder von uns gegangen,

Weswegen ist der Himmel verhangen?

Die Zeit läuft, ich wünschte, ich hätte mehr, 

Vermissen tu 'ich jemanden so sehr. 

Stille in ruhigen Abendstunden, 

Die Uhr an der Wand tickt die Sekunden.

Ich schrieb es in mein Notizbuch, vorsichtig, denn meine Nägel waren immer noch nicht trocken.  Ausbaufähig. Wenn ich eine bekannte Dichterin werden wollte, musste ich definitiv noch an mir arbeiten. Ich dichtete schon seit der zweiten Klasse. Ich hatte schon unzählige  furchtbare Gedichte verfasst, aber bis jetzt fand ich keines davon schön. Am schönsten war jedes Gedicht direkt nach dem Schreiben. Oder sogar noch während des Schreibens.

Meine Nägel waren mittlerweile trocken und meine Füße wurden kalt, weshalb ich ins Bett ging. Ich las noch ein wenig aus Sturmhöhe. Es war eines meiner Lieblingsbücher. Ich weiß, wie in Twilight, Bella und Edward (nein, das klingt nicht wie Edgar) mögen auch Sturmhöhe, aber ehrlich gesagt bin ich kein Twilight-Fan. Ich mag die Volturi, aber die Liebesgeschichte ist mir eine Spur zu kitschig. Ich konnte zwar verstehen, was andere daran mochten, ich hatte ja selbst alle Bücher gelesen und alle Filme gesehen, aber das einzige, weshalb ich es noch einmal tun würde, waren die Volturi. 

Um halb zehn machte ich dann das Licht aus. Es waren zwar Ferien, aber ich wollte morgen so früh wie möglich wieder los. Falls sie mich gehen lassen würden. Diese Nacht träumte ich von einem heimgesuchten Haus, in dem ich eine Leiche finden musste, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Es war schon ein wenig gruselig, aber ich fand die Leiche, die überhaupt nicht wie eine Leiche aussah, sondern wie eine schlafende Person. Demnach war dieser Part auch nicht so gruselig wie die Geister, denen ich begegnete. Die sahen nämlich aus wie lebendige Tote. 

Ich wachte am nächsten Morgen tatsächlich früher als in den letzten Tagen auf. Ich wachte sogar vor meinem Vater und vor meiner Tante auf. Ich stand eine Viertelstunde vor meinem Kleiderschrank, dann zog ich ein schwarzes Kleid mit selbst angenähter Spitze und Knopfleiste und einem schönen, weißen Drachenmuster an, das nur knielang war - ja, so etwas besaß ich - und eine schwarze Thermo-Strumpfhose. Über das Kleid zog ich noch eine kurze, langärmlige Strickjacke, da das Kleid kurze Ärmel hatte. Ich zog die zum Kleid passende Drachenhalskette an. Heute war ich in Fantasy-Stimmung, was man auch an meiner Musikauswahl diesen Morgen merkte. Ich tanzte durch mein Zimmer, kämmte meine Haare, schminkte mich und betrachtete zufrieden mein Werk. Heute hatte ich mehr als nur Striche unter und über die Augen gemacht, was echt schwierig gewesen war mit der Farbe von der Wimperntusche.

 Heute hatte ich mehr als nur Striche unter und über die Augen gemacht, was echt schwierig gewesen war mit der Farbe von der Wimperntusche

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[Das kann man sich dann etwa so vorstellen, vielleicht ein wenig unsymmetrischer und verschmierter. Und natürliche Augenbrauen.]

Als ich rauskam, waren mein Vater und meine Tante schon auf. Sie machten gerade Frühstück und sahen sich nur an, als sie mich bemerkten. „Ist heute ein besonderer Anlass?", fragte meine Tante mit hochgezogenen Augenbrauen. „Nein, wieso?" Ich half ihr, den Tisch zu decken. Sie antwortete mir nicht. Ich wusste, dass sie entweder mein frühes Aufstehen oder mein Outfit meinte, vielleicht auch beides. Sie sagten noch nichts über die neuen Regeln, wahrscheinlich wollten sie die Ruhe genießen, bevor das Drama begann. Ich ging also nach dem Frühstück in mein Zimmer und suchte wieder meine Sachen zusammen, um gleich zu verschwinden, egal, was sie sagten. Es war schon viertel nach neun, der nächste Bus kam um halb zehn. Nachdem ich nochmal auf dem Klo war, zog ich mir schnell Schuhe und Mantel an, außerdem packte ich meinen Regenschirm ein. Jetzt tauchten sie im Flur auf. 

„Wo willst du so früh hin?" „Wohin wohl? Natürlich in den Wald und Zyklopen jagen. Nein, ich gehe auf den Friedhof." „Zu Mama?", fragte Papa. „Auf den Friedhof", wiederholte ich. „Was willst du da?" „Kleine Kinder opfern." „Wann kommst du zurück?" Okay, sie glaubten mir nicht. Eigentlich war das gut, weil ich niemals im Leben Lebewesen opfern würde. Ich war aus diesem Grund auch Vegetarier. „Wenn die Kinder aufgebraucht sind." „Kannst du bitte beim Thema bleiben? Wir möchten, dass du zum Mittagessen wieder da bist." „Wieso?" „Weil du nicht den ganzen Tag draußen herumlaufen sollst, ohne dass wir wissen, was du machst. Du bist in letzter Zeit ziemlich lange draußen gewesen." „In den letzten zwei Tagen", widersprach ich meiner Tante. „Und was hast du da gemacht?" „Ich war auf den Friedhof." Sie schwieg genervt, dann meinte sie: „Vielleicht solltest du weniger Zeit dort verbringen. Du solltest wie normale Leute in den Park gehen. Vielleicht lernst du da auch mal Kinder kennen, mit denen du dich dort treffen kannst." „Ich bin kein Kind mehr", erinnerte ich sie. „Aber erwachsen bist du auch noch nicht und deshalb sollst du nicht den ganzen Tag weg sein, ohne dass wir wissen, was du machst." „Wieso?" „Dir könnten Dinge passieren oder du könntest Sachen machen, die du später bereust." „Was denn für Sachen?" Ich grinste sie frech an. Sie seufzte. Mein Vater verfolgte diese Diskussion schweigend und er sagte auch jetzt nichts. 

„Du bist zum Mittagessen wieder da und dann bleibst du hier. Dein Verhalten dulde ich nicht." „Ich gehe, wann und wie lange ich will." „Du bleibst gleich hier, wenn du nicht aufhörst." „Wieso sollte ich das tun?" „Hör auf, mich zu provozieren. Ich versuche nur, auf dich aufzupassen." „Das kann ich auch selber." „Nein, in deinem Alter bist du noch nicht reif genug dazu. Und wenn du dich nicht so kindisch verhalten würdest, würden wir dir auch mehr zutrauen." „Was könnte ich denn machen?" „Was weiß ich, was du da draußen treibst!" „Zu spät, ich bin schon schwanger." Ich nutzte den Moment des Schockes aus, um mich aus dem Staub zu machen. „Was soll das heißen?", schrie mein Vater mir hinterher. „Leonore Lindner! Bleib sofort stehen!", schrie meine Tante mir hinterher. Natürlich blieb ich nicht stehen, sondern polterte mit meinen schweren Stiefeln die alte Holztreppe hinunter, sodass ich mich wunderte, wieso sie nicht einbrach. Erst, als ich an der Bushaltestelle war und sie mir nicht gefolgt waren, atmete ich erleichtert auf. Natürlich riefen sie mich sofort an, aber ich stellte mein Handy auf stumm. Entspannen konnte ich mich trotzdem erst im Bus. 

Ich konnte keine Musik während der Fahr hören, weil sie es ununterbrochen klingeln ließen. Ich musste grinsen, ihre Leichtgläubigkeit hatte ich definitiv unterschätzt. Ich begegnete Edgar, als ich zum Grab lief. Er lief gerade in die selbe Richtung, aber von einem anderen Pfad aus. Ich versteckte mich hinter einem Busch auf einem Grab - ich stieg natürlich nicht aufs Grab, sondern duckte mich davor, dann wartete ich, bis er weit genug auf dem selben Weg war wie ich und mich nicht bemerken würde. Ich schlich mich von hinten an und versuchte, ihn zu erschrecken. Ich packte ihn an den Schultern und machte „Buh!" Er zuckte tatsächlich zusammen, lachte aber, als er sich zu mir umdrehte. „Hi." „Hi." Ich grinste, er grinste zurück. Und schon wieder machte es mich viel zu glücklich, ihn zu sehen.

Mortalis (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt