💿 Kapitel 20 💿

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Ich wollte ihn unbedingt noch einmal wiedersehen, bevor die Schule wieder begann. Vielleicht durfte ich morgen nicht mehr kommen. Ich hoffte so sehr, er musste doch einfach da sein. Ich rannte fast. Am Grab war niemand. Er würde heute nicht mehr kommen, ich war mir fast sicher. Enttäuscht drehte ich mich um und lief den Weg wieder runter, den ich gerade gekommen war. Ich wollte zu meiner Mutter. Ich begrüßte sie nicht einmal, sondern ließ mich vor ihr einfach auf den Weg plumpsen und starrte auf ihren Grabstein. Ich hatte keine Worte für das, was gerade in mir vorging. Wahrscheinlich wurde ich nun doch verrückt und meine Tante hatte Recht gehabt mit der Nervenklinik. Wieder und wieder las ich die Inschrift auf dem Stein. Julia Linder. Geboren 7.11.1981, gestorben 4.3.2018. Als liebende Ehefrau, liebevolle Mutter, geliebte Tochter und Schwester sowie gute Freundin werden wir dich in Erinnerung behalten. Liebevolle Mutter. Mutter eines Kindes, das jetzt fünf Jahre später vor ihrem Grab saß und mit dem Leben überfordert war. Würde das jemals vorbeigehen? Dieser Schmerz, dieses Gefühl, alleine zu sein? War es nur die Pubertät, die machte, dass ich alles scheiße fand? Nein, das war falsch. Zwei Sachen waren nicht scheiße. Musik und... Edgar. Edgar war nicht scheiße. Obwohl, vielleicht war er es und ich hatte es nur noch nicht gemerkt.

Eine junge Frau kam den Weg entlang und hockte sich drei Gräber weiter hin, um das Grablicht auszutauschen. Vor dem angezündeten Licht blieb sie hocken. Ich sah, wie sie sich unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. Das Grab war nicht neu. Sie schien immer noch zu trauern. Oder sie hatte einfach nur einen schlechten Tag gehabt und wünschte sich, die Person wäre jetzt gerade da. Als sie nach einem Moment wieder aufstand, begegneten sich unsere Blicke. Ich schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Ich bekam dasselbe Lächeln zurück. Ich fühlte mich tatsächlich augenblicklich besser. Was für Wunder so eine einfache Geste doch bewirken konnte! Als die Frau verschwunden war, stand ich auf, um die Inschrift auf diesem Grabstein zu lesen. Ich hatte sie wahrscheinlich schon oft gelesen, aber immer wieder vergessen. Monika Stieger. Geboren 6.6.1970, gestorben 6.6.2020. Interessante Daten. Monika war exakt fünfzig Jahre alt geworden und an ihrem Geburtstag gestorben. Der Tod konnte ein mieses Arschloch sein.

Die Stille auf dem Friedhof war heute deprimierender als je zuvor und ich beschloss, ein Stück Richtung nach Hause zu laufen. Und aus diesem Stück wurden ein paar Kilometer und ehe ich mich versah, stand ich vor meiner Haustür. Ich hatte nur eine Stunde gebraucht. Mit diesen Schuhen war es echt nicht bequem, so lange Strecken zu laufen. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass wir erst viertel vor drei hatten. Ich kramte in meiner Tasche, doch stellte fest, dass ich meinen Schlüssel mal wieder vergessen hatte. Ich klingelte, doch niemand schien da zu sein. Ich zählte von sechzig runter, dann klingelte ich noch einmal. Immer noch nichts. Ich musste fest schlucken, als Erinnerungen in mir hochkamen. Niemand öffnete die Tür, ich saß im Treppenhaus, bis Papa kam, er schloss die Tür auf, er rief ihren Namen. Und entdeckte sie auf dem Küchenboden. Ich presste die Hände an meine Schläfen und schloss die Augen. Meine Tante war nicht tot. Nein, und selbst wenn, wieso hatte ich solche Angst davor? Wir standen uns doch gar nicht nahe. Meine innere Stimme, auch Gewissen genannt, meldete sich. Aber sie kümmert sich die ganze Zeit um dich und Papa. Insgeheim liegst du ihr doch am Herzen und sie dir.

Verschwommen nahm ich den Klingelknopf wahr, als ich die Augen wieder öffnete. Er hatte sich in all den Jahren nie geändert. Meine Eltern hatten nie geheiratet und meine Tante hieß genauso wie meine Mutter. Eisenhower/Linder stand immer noch auf einem vergilbten Zettel in dem Schild auf der Taste. Ohne es zu merken, hatte ich meinen Finger wieder auf die Taste gelegt und drückte noch einmal. Das Summen der Tür riss mich aus diesem komischen Zustand. Ich drückte die Tür schnell auf. „Schon da?", fragte mich meine Tante oben überrascht. Ich zuckte mit den Schultern und ging an ihr vorbei in den Flur. „Ich dachte, du wärst die Post. Ich war gerade noch duschen." Tatsächlich glänzten ihre Haare noch nass. Als ich keine Antwort gab, fragte sie: „Und, was hast du heute so gemacht?" „War bei Mama. Dann bin ich nach Hause gelaufen." „Gelaufen? Du meinst den ganzen Weg?" Ich hob die Schultern und nickte gleichzeitig.

„Und... hast du jemanden getroffen?" Niemanden, den ich kannte. Ich schüttelte den Kopf. „Es wäre doch ganz schön, wenn du mal Freunde finden würdest. Ein wenig Normalität würde dir gut tun." Ich ignorierte sie und ging Hände waschen. Sie folgte mir schon wieder. „Gibt es in deiner Klasse denn keine netten Mädchen?" Ich lachte freudlos auf. Nein, Tante. Wenn du wüsstest. „Oder auf deiner Schule?" Ich schnaubte. „Jasmin ist doch eigentlich ganz nett gewesen. Ihr habt euch immer gut verstanden." Ich erstarrte. Meine Finger krallten sich um den Rand des Waschbeckens, doch sie schien meine Reaktion nicht zu bemerken. „Was ist damals eigentlich passiert?" Ganz langsam drehte ich mich zu ihr um. „Sie hat mich verraten, das ist passiert." „Was hat sie verraten? Wem?" Ich wurde unglaublich wütend und schrie ihr ins Gesicht: „MICH! Sie hat mir versprochen, für mich da zu sein. Aber sie hat nur versucht, mich zu ändern. Und als ich mich nicht geändert habe, hat sie mich alleine gelassen! Weil ich ihr zu anstrengend war! Verräterin!" Es tat gut, so zu schreien.

Nun aber schlug die Wut in Verzweiflung um und ich merkte, dass die Trauer nicht eingeschlossen war, sondern frei. Meine Augen füllten sich mit Tränen und bevor eine einzige davon laufen konnte, rannte ich in mein Zimmer und schlug die Tür hinter mir zu. Der Schlüssel fiel aus dem Schloss und mit zitternden Händen hob ich ihn wieder auf, steckte ihn in Schloss und drehte ihn zweimal herum. Dann legte ich mich einfach auf den Boden und ließ die Tränen laufen. Heute war ein scheiß-Tag, beschloss ich. Ich holte aus dem Beutel, den ich immer noch umhatte, mein Handy und meine Kopfhörer heraus, um Stigmata Martyr auf voller Lautstärke zu hören.

Meine Tante hatte sich noch mehrere Male versucht, zu entschuldigen, schien aber selbst nicht genau zu wissen, wofür, deshalb sagte ich beim fünften Mal „Ist schon in Ordnung." Dann redeten wir beide nicht mehr miteinander. Auch mein Vater hatte nichts zu sagen, als er nach Hause kam. Er schien sehr müde zu sein, weshalb auch meine Tante ihn in Ruhe ließ. Bevor ich schlafen ging, setzte ich mich wieder mit meinem Notizbuch und einem Stift ans Fenster. Ich sah auf die gegenüberliegenden Häuser. In einigen Fenstern sah man Fernseher flimmern. Was für eine Zeitverschwendung Fernsehen doch war. Sie verpassten dadurch alle den Moment des anbrechenden Abends, den Sonnenuntergang und wie die Straßenlaternen angingen. Musik und Bücher waren alles für mich, ich brauchte kein Fernsehen. Musikvideos waren ab und zu ganz nett, aber das war es auch. Ich schlug die nächste leere Seite auf.

Fernsehroboter, haben nichts anderes zu tun

Fernsehroboter, gegen Fantasie immun

Fernsehroboter, gierig nach dem bunten Licht

Fernsehroboter, was andres sehen wollen sie nicht.

Jeden Abend Glotze an, durch die Fenster sehn kann man

Überall die Bilder flimmern

Im Hause dort in all den Zimmern.

Bis spät in die Nacht wird dann gestarrt

Solange es geht wird ausgeharrt.

Am nächsten Morgen dann ganz müde,

Alle Augen sind ganz trübe.

Nach Schul'und Arbeit ganz erschöpft,

Alle sinnlos wie geköpft.

Hausaufgaben, Hunger haben, nach dem Essen am Fernseher laben.

Sieh nur, wie die Zeit vergeht! Es ist schon wieder ganz schön spät.

Aber schlafen kannst du nicht

Für deine Augen war es zu viel Licht.

Steht der Fernsehroboter auf, nimmt es wieder seinen Lauf.

Fernsehroboter, haben nichts anderes zu tun

Fernsehroboter, gegen Fantasie immun

Fernsehroboter, gierig nach dem bunten Licht

Fernsehroboter, was anderes sehen wollen sie nicht.

Als es Zeit wurde, kletterte ich von der Fensterbank runter, schaltete das kleine Nachtlicht aus und rollte mich fest in meine Decke ein, Davie an meine Brust gedrückt. Aber schlafen konnte auch ich nicht. Nicht, weil ich zu viel Fern gesehen hatte, sondern weil meine Gedanken um zwei Personen kreisten: Jasmin und Edgar. Vor allem um Edgar. Ob er auch schon schlafen war? Oder war er bei seinen „Freunden?" Oder... Langsam fielen mir die Augen zu.

Mortalis (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt