🕷️ Kapitel 13 🕷️

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„Ich habe eigentlich nie wirklich geweint, außer einmal, als auch meine beste Freundin nichts mehr mit mir zu tun haben wollte. Du warst dabei, als ich das letzte Mal geweint habe. Es... es ist seltsam geworden, ich fühle alles, was früher einfach an mir abgeprallt ist. Und ich habe mich immer noch nicht entschieden, ob das gut oder schlecht ist." „Es hört sich einsam an." „Das ist - das war es. Aber es ist doch auch meine Schuld." Er schüttelte den Kopf. „Nein. Das kann nicht deine Schuld gewesen sein. Für mich hört sich das eher an, als wäre in deinem gesamten sozialen Umfeld niemand gewesen, der sich wirklich Mühe gegeben hat, dich zu verstehen oder gewusst hat, wie man mit dir umgehen sollte. Hat je jemand versucht, mit dir auf emotionaler Ebene zu kommunizieren? Weil wie ein Psychopath kommst du mir jetzt auch nicht vor. Ein Psychopath hätte nicht geweint, wenn er gemerkt hätte, dass er jemanden mit seinem Verhalten verletzt hat." 

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Aber ich fragte: „Wie meinst du das? Auf emotionaler Ebene zu kommunizieren?" „Sind sie je auf deine Wut eingegangen oder haben versucht herauszufinden, welches Bedürfnis dahinter steckt?" „Eigentlich - nein, eigentlich nicht. Mir wurde immer nur gesagt, ich sei undankbar." „Und hast du versucht, mit ihnen zu reden? Hast du ihnen gesagt, wie du dich fühlst?" „Nein." „Haben sie dir gesagt, wie sie sich fühlen?" „Nicht direkt." Wieso kannte er sich damit aus? „Haben sie eigentlich irgendetwas nach dem Tod deiner Mutter gemacht? Mit dir darüber geredet? Du hast wirklich keine Therapie bekommen?" „Nicht wirklich. Alle haben Verständnis gezeigt, als sie gestorben ist. Aber nach einem Jahr haben alle weitergemacht, als wäre nichts passiert. Und nein, Therapie habe ich keine bekommen." 

„Das klingt so, als hätten sie von dir erwartet, dass du mit neun Jahren wie ein Erwachsener mit ihrem Tod umgehen solltest." „Ich denke, so ähnlich war es auch. Ich glaube, sie haben gedacht, dass ich einfach traurig sein müsste und dann wieder normal werden würde. Aber meine Tante konnte meine Mutter nie ersetzten, wir kamen nach einem Streit nicht mehr so gut miteinander aus. Und mein Vater - der hatte Probleme damit, eine gute Beziehung zu mir aufzubauen, nachdem er selbst am Boden war. Und was mit meinen Freunden war, habe ich dir ja schon erzählt. Ja, eigentlich war ich ziemlich einsam." „Dann hattest du ja eigentlich ein gutes Recht, Aufmerksamkeit zu wollen." „Ich habe es trotzdem übertrieben." „Vielleicht. Aber kann man ein - wie alt warst du da? - dreizehnjähriges Mädchen dazu verurteilen, aggressiv auf ihr Umfeld zu reagieren, nachdem sie in jungem Alter mit dem Tod ihrer Mutter konfrontiert wurde und niemand eigentlich versteht, was in ihrem Kopf vorgeht?" Ich schüttelte den Kopf. „Aber trotzdem ist es meine Schuld, ich war gemein zu meinen Freunden, meinem Vater, meiner Tante, den anderen... Ich habe gemacht, dass mein Vater nicht mehr richtig mit mir geredet hat... Ich habe gemacht, dass meine Tante mich hasst... Dass alle mich hassen... Dass die Jungs in meiner Schule..." Ich fing an zu weinen. Nicht schon wieder, nein, nein, nein! 

Mir war ein wenig schwindelig und ich hielt mir den Kopf, in dem es gerade ziemlich laut war. Erinnerungsfetzen flogen vorbei. Du bist so undankbar, ich habe mir die ganze Zeit dein Gejammer angehört. Es ist jetzt Jahre her, okay?  Ich habe mich fast jeden Tag mit dir getroffen, ich habe alles für dich getan, was du wolltest, aber mir reicht es. Du bist so toxisch, du merkst gar nicht, was ich für dich tue. Du nimmst und gibst nie etwas zurück, merkst du das eigentlich? Du bist so egoistisch! Mir reicht es, ich kann nicht mehr! Ich will nicht mehr mit dir befreundet sein. Ich will dich eigentlich nie wieder sehen! - Siehst du nicht, was du deinem Vater antust? Du bist nicht die einzige, die sie vermisst. Und dein Vater lebt noch, also sei verdammt noch mal dankbar für das, was du hast. - So ein Verhalten dulde ich nicht in meinem Unterricht. Ich weiß, dass du einen großen Verlust in deiner Familie hattest, aber wir können nicht immer darauf Rücksicht nehmen, dass wir deine Gefühle nicht verletzten, wenn wir uns gegen dein Verhalten wehren müssen. Geh bitte vor die Tür, bis du dich beruhigt hast. - Deine Mutter ist schon lange tot, das entschuldigt nicht, wie du mit mir redest. Ich habe dir nichts getan! Wieso bist du so gemein zu mir? - Du hast sie doch echt nicht mehr alle. Ich kann nichts dafür, dass du keine Mutter mehr hast, also halt die Klappe, Hure! Als ob es die ganze Zeit nur darum ging. Alle ritten die ganze Zeit darauf herum und schrieben mein Verhalten immer diesem einen Grund zu. 

Edgar nahm meine Handgelenke und zog meine Hände von meinen Schläfen weg. Dann wischte er mir die Tränen von den Wangen. „Hey, nicht weinen. Ich wollte nicht..." „Es ist nicht deine Schuld", schniefte ich. Er nahm mich in den Arm und wiegte mich wieder, wobei er mir auch wieder über den Rücken strich. Ich ließ ihn, aber nach vielleicht zehn Minuten fragte ich: „Wieso hörst du dir das alles überhaupt an? Du müsstest das alles gar nicht tun und trotzdem bist du nett zu mir. Du hast doch selbst schon genug Probleme. Und trotzdem sitzt du hier, nimmst mich in dem Arm und tröstest mich." „Stört dich das? Soll ich..." Er ließ mich los, aber ich ließ ihn nicht gehen, sondern vergrub mein Gesicht nur umso mehr in seiner warmen Halsbeuge. „Nein! Es stört mich nicht." Er legte die Arme wieder um mich. „Und wieso nicht?" „Weil..." Ja, wie sollte ich das jetzt erklären? „Deshalb sitze ich noch hier." Ich musste trotz dem Heulen lachen. „Ist das so offensichtlich?" „Was meinst du?" Wir lösten uns etwas und ich sah, dass er grinste. „Kommt drauf an, was du meinst." Ich grinste zurück. Er wischte mir wieder die Tränen von den Wangen. Da war dieser Moment, wo er mit seiner Hand über mein Haar fuhr. Ich glaube, wir meinten beide das selbe, aber keiner von uns sprach es aus. Es war noch zu früh, um sich sicher zu sein. 

Die Fledermäuse in meinem Bauch fanden das nicht so romantisch wie ich und suchten wieder nach einem Fluchtweg, weil es ihnen zu viel wurde. Wir saßen wieder schweigend nebeneinander, wir beide in Erinnerungen schwelgend. „Ich vermisse meine Eltern, obwohl ich das vor anderen nie zugeben würde", begann Edgar. „Ich weiß nicht, wann mein Vater wiederkommt, aber sehr lange wird er wahrscheinlich nicht mehr weg sein. Er weiß noch gar nichts von den Piercings im Gesicht, bisher durfte ich nur meine Ohren machen." Er fuhr mit seiner Zunge über den Metallring in seiner Lippe. Keine falschen Gedanken, Leonore... Hilfe. 

„Auf jeden Fall: Ich habe meine Mutter jetzt auch schon seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Sie hat noch knapp zehn Jahre, aber wenn mein Vater aus der Klinik raus ist, dürfen wir sie vielleicht auch mal besuchen. Bis mein Vater wieder da ist, muss ich bei meinem Kumpel schlafen, der hat eine kleine Wohnung, ebenfalls in der Nähe. Es ist nur ziemlich nervig, dass seine aktuelle Freundin jetzt auch noch eingezogen ist, die anderen haben immer nur übernachtet, was nicht ganz so nervig war. Sie hat ihre gesamte Schuhsammlung mitgebracht und jetzt haben wir keinen Platz im Flur mehr, weil sie die da nämlich ausgeladen hat. Aber wehe, jemand tritt auf ihre Schuhe." Ich grinste nur. Ich wusste genau, was er meinte. Wenn ich mir eigene Schuhe kaufen könnte... darüber reden wir besser nicht. 

„Ab und zu schläft da auch noch einer aus unserer Clique, dessen Freundin ihn einmal im Monat rausschmeißt, weil sie dann immer sehr launisch ist und sie sich streiten." Jetzt lachte ich. „Der hat immer auf dem Sofa geschlafen, ich hatte eine Matratze im Schlafzimmer. Aber ich wurde rausgeschmissen und auf der Matratze schläft nun Eddie, also der, dem die Wohnung gehört. Seine Freundin schläft im Bett. Sie findet das Bett zu klein für zwei, zumindest, wenn sie wirklich schlafen will, falls du verstehst, was ich meine... und das Schlafzimmer beanspruchen sie jetzt ganz für sich, nicht mal meinen Kram durfte ich da lassen. Ich bin jetzt offiziell aufs Sofa umgezogen, aber letztens musste Wolfgang wieder vorbeikommen... Er hat fürchterlich gestunken, aber das Sofa war gerade breit genug für uns beide und ich hatte keine andere Option. Er auch nicht, auch wenn es ihm nicht so viel ausgemacht hat wie mir." Er verzog das Gesicht. „Und geschnarcht hat er auch noch. Ich hätte sowieso nicht gut schlafen können, weil das Sofa steinhart ist und ich seit gestern Nachmittag nicht mehr geraucht habe. Ich bin stolz auf mich, das war bis jetzt mein Rekord. Angeblich dauert es nur vierzehn Tage und dann hat man es geschafft, dann hat man die Sucht bewältigt. Ich versuche die ganze Zeit, nicht ans Rauchen zu denken, weil es so einfacher geht. Wobei es eigentlich nie ganz aus meinen Gedanken verschwindet. Es ist schon ziemlich hart. Ich kann meinen Vater verstehen, auch wenn seine Sucht viel extremer war."

Mortalis (German Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt