Wachstumsschmerzen

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Fahle Haut, Augenringe, hohle Wangen-

Mein Anblick im Spiegel ist nicht gerade vielversprechend. Ich hatte eben angefangen ein Nickerchen - unbequem zusammengestaucht in Demetras Sessel - zu halten, bevor Eric mir mitgeteilt hat, dass Damons Bote eingetroffen ist.

Heute gönnt mir auch keiner einen Moment zum Denken.

Selbst nach ein paar Spritzern eiskalten Wassers sehe ich noch immer aus wie gerädert, ganz zu schweigen davon, wie ich mich fühle.

Mo ist fort. Er hat sich nach unserem Gespräch rasch zurückgezogen, vermutlich genauso erschöpft davon wie ich. Es gab Tränen. Viele Tränen. Vorwürfe und Entschuldigungen, Leugnung der Realität und Verzweiflung, wenn die Wahrheit übermächtig wurde. Ich habe Mo schreiend auf Demetras Teppich knien sehen. Ringend mit sich selbst, Gott, dem Schicksal, was auch immer man für menschliches Drama verantwortlich macht. Schließlich, kurz vor der Dämmerung, waren seine Tränen versiegt und hatten etwas anderem Platz gemacht. Etwas noch viel gruseligerem. Zorn. Kalter, abgebrühter Zorn.

Du kannst meine Entscheidung scheiße finden, kannst mich sogar dafür verachten, hat er gesagt, mit funkelnden Augen, die vom Weinen noch rotgeädert waren. Aber akzeptieren musst du sie. So wie ich deine akzeptieren werde.

Meine Entscheidung. Mir läuft ein Schaudern über den Rücken, als ich den Mantel der Priorin umlege. Der Stoff ist fließend, aber er fühlt sich an, als seien zusätzliche Gewichte eingenäht. Kein Vergleich zu Eleanors leichtem Schattenumhang. Das Silber liegt schwer auf meinen Schultern, lässt mich vor dem Spiegel schrumpfen, fast als sei es für stärkere Frauen als mich gemacht. Asteria hat leicht reden, wenn sie sagt, ich würde genügen. Sie muss ja auch nicht Eleanor Murrays Erbe antreten. Die Frauen, die mir vorausgegangen sind, waren älter als ich. Weiser, mächtiger. Wie soll ich das schaffen, allein? Einen Moment lang sehe ich sie an meiner Seite stehen, Eleanor und Demetra in das Grau gekleidet wie Statuen, groß und ehrfurchtgebietend. Dann sehe ich nur wieder mich.

Lina Büchner, Priorin der Wächter von Stormglen...

...zumindest bis zu ihrem Rücktritt.

Ich stelle mich vor dem Spiegel gerader hin, richte mich auf. Wie hat meine Sportlehrerin immer gesagt? Schultern zurück, Brust raus. Fast automatisch werde ich größer.

Es hilft alles nichts. Ein Teil von mir will noch immer nicht wahrhaben, dass Eleanor tot sein soll. Vielleicht irrt Asteria sich mit ihrer Vorhersage, vielleicht spielt die Elfe auch ein eigenes Spiel. Bis jetzt klammere ich mich an die Hoffnung. Aber wenn es stimmt, wenn Damon sie getötet hat, sie und Demetra, dann werde ich nicht ängstlich geduckt vor seinem Boten erscheinen. Ich will Antworten, für die Wächter, für Mo und für mich.

Das ist dein Moment der Entscheidung, hat Asteria gesagt.

Und wie er das ist.

***

Ich spüre die aufgeheizte Stimmung schon als ich aus dem Eingangsportal trete. Es ist kurz vor Einbruch der Dunkelheit und vom Meer drückt der Nebel ins Land. Trotz Kälte und Nässe hat sich schon eine beträchtliche Anzahl an Wächtern auf der feuchten Rasenfläche vor Stormglen Manor eingefunden. Niemand im Kolleg will Damons Boten verpassen.

Ich habe damit gerechnet, dass Margret allein kommen würde. Aber als mein Blick hinter den unsichtbaren Schutzwall fällt, sehe ich neben ihr noch eine zweite Frau.

Ah. Na, das erklärt zumindest die gereizte Stimmung hier.

Die Wächter stehen überall auf dem Rasen verteilt. In meiner Nähe erkenne ich Nicolas und Mo, daneben Eric und sein Kollegium. Direkt vor dem Schutzkreis hat sich eine Menschentraube aus dem Blauen und Grünen Kollegium gebildet, angeführt von Roxy. Unter unseren Füßen erzittert der Boden, ich kann die Pflanzen im Erdreich rumoren hören und mir wird klar, was Sache ist. Ich laufe schneller.

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⏰ Letzte Aktualisierung: 4 hours ago ⏰

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