Keine Russo - Teil 1

4.9K 237 31
                                    

Kapitel 1


Ann

Der Himmel war klar und trug den Duft von Jasmin und Rosen aus dem Garten bis zu mir, während ich von meinem Buch aufsah und den ruhigen Frühlingstag genoss.

Es war ungewöhnlich, dass ich das Anwesen der Familie Russo für mich alleine hatte, aber Mr und Mrs Russo waren mitsamt ihren psychotischen jüngsten Sohn irgendwann heute Morgen verschwunden und ich wollte diesen Moment nutzen. Ich wusste, dass so eine Gelegenheit so schnell nicht wieder kommen würde.

Normalerweise hätte ich mich niemals aus meinem Zimmer herausgewagt nur, um mich irgendwo zum Lesen hinzusetzen.

Die Chance, dass mich einer der drei Russo-Söhne fand und dachte er könnte sich auf meine Kosten etwas Unterhaltung verschaffen, war viel zu groß. Auch wenn ich zugeben musste, dass es seltener geworden war, dass sie mich verspotteten. Viel seltener.

Als ich vor zwölf Jahren, im Alter von gerade einmal zehn Jahren, gezwungen gewesen war, meine Familie zu verlassen und mit ihnen zusammenzuleben, hatten mich alle wie eine Krankheit behandelt, die nun in ihrem Haus lebte.

Der Verrat meines Vaters, meines Vaters an ihre Familie, war auch ihnen nur zu gut bekannt gewesen und ihr aller Hass so greifbar, dass ich sofort wusste hier komplett auf mich alleine gestellt zu sein.

Gerade Julien Russo, der jüngste, hatte keinen Tag verstreichen lassen, indem er mich gequält und gedemütigt hatte, um seinen eigenen Frust abzubauen. Ich war der Eindringling in dieser Familie gewesen, das war ich noch immer.

Ich bin keine Russo.

Ich bin Ann Zolki, einzige Tochter von Gerd und Vanessa Zolki - den Verrätern. Es war ein Wunder, dass die Russos uns überhaupt am Leben gelassen hatten, doch mein Vater - ein korrupter Bauunternehmer, der dachte ein zu großer Fisch im Teich der organisierten Kriminalität zu sein, um tatsächlich Angst haben zu müssen, hatte sich lebend nützlicher bewiesen als tot.

Deswegen war ich auch hier. Ich war ein Pfand, ein Druckmittel und eine Garantie dafür, dass mein Vater genau das tat, was Janosch Russo wollte. Falls nicht, würde ich in Einzelteilen zu meiner Mutter zurückgeschickt werden.

Ich lebte ständig in der Angst davor, dass meine Eltern einen Fehler machten und ich dafür die Konsequenzen würde tragen müssen, doch das war etwas, woran man sich irrsinniger weise gewöhnte. Sie würden mich Foltern und Umbringen - egal was ich tat oder nicht. Da war eine andere, eigentlich weniger schlimmen Konsequenz, schon bedrohlicher in meinen Kopf. Die Konsequenzen meines eigenen Handels, die ich um jeden Preis vermeiden wollte. Doch die Regeln waren teilweise absurd. Ob ich meine Gabel beim Abendessen zu laut auf den Tisch legte, ich mich nicht ruhig genug verhielt oder mich einfach zu lange oder wahlweise nicht oft genug, in einem Raum befand. Das alles und noch viel mehr könnte mit Strafen enden.

Obwohl ich seit über zehn Jahren zwischen den Russos lebte, war ich nicht mehr als ein Insekt in ihren Augen, eine Bürde, die sie nur halbwegs anständig behandelten, weil es sonst unehrenhaft gewesen wäre.

Mr Russo nahm das sehr ernst, es war ihm wichtig als Ehrenhaft zu gelten, das hatte mir schon das ein oder andere Mal den Hintern gerettet. Ich erhielt ich gute Kleidung, eine gute Ausbildung, gutes Essen und eine komfortable Unterkunft, solange bis er mich in Scheibchen schnitt und eine Kugel in den Kopf jagte. Solange war ich sicher vor ihm und er akzeptierte mich an seinen Tisch, solange ich nicht etwas Dummes machte wie gegen mein Schicksal anzukämpfen.

Damit konnte ich leben, denn ich wusste, woran ich bei ihm war. Wenn ich versuchte wegzulaufen, würden sie mich umbringen, wenn ich versuchte, um Hilfe zu rufen, würden sie mich töten. Einfache Regeln, die ich befolgen konnte.

Keeping Ann - Ich lasse dich nicht gehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt