Zu seinen Füßen

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Kapitel 9

Ann

Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich einfach zwischen den Ästen stand und abwartete, dass die letzten Schüsse verstummten, aber es mussten mindestens zwanzig Minuten gewesen sein, denn meine Gliedmaßen wurden langsam taub und meine Muskeln waren so verspannt, dass ich alle Kraft aufbringen musste, um mich festzuhalten, anstellezuweinen oder zu heulen, wie ich es eigentlich tun wollte.

Das Adrenalin in meinen Ohren rauschte und ich schloss einfach meine Augen und versuchte, das Geschehen um mich herum auszublenden, bis es langsam still wurde. So still, dass es mich fast noch mehr verstörte als die Schüsse. Denn mit der Stille kam das Leid. Das Weinen und ächzen der Verletzten und Sterbenden. Ich blieb immer noch regungslos, bis ich Maik und Neel sah, wie sie sich ungehindert auf der Terrasse bewegten. Die Russos hatten gewonnen und ich hatte keine Ahnung, ob mich das freuen oder bestürzen sollte.

Der Status Quo war nichts, was mir mein Leben rettete, nur etwas, das mich bis zu einem bestimmten Punkt am Leben erhielt. Aber ich könnte die Gelegenheit und das Chaos vielleicht nutzen. Was sollte schon passieren, wenn ich einer Wache bei einem Fluchtversuch in die Arme lief? Sie würde mich erschießen und das war sowieso das Ende, das mich auf kurz oder lang erwartete, also...

"Komm darunter", meinte eine Stimme unter mir. Eine Stimme, die ich nur zu gut kannte und deren Klang mich dennoch immer wieder in Aufruhr versetzte. Drake. Er sprach mich so selten an, dass ich mich einfach nie hatte daran gewöhnen können, wie verlockend seine Stimme klang. Melodisch und tief, sodass sie wie ein Reibeisen über meine Haut schmirgelte. Bis ich blutete. Oder um mehr bettelte.

Ich erkannte ihn sofort, aber ob er mich erkannte, war fraglich...

"Komm da runter oder ich verpass' dir einen Kopfschuss und lass die Schwerkraft den Rest erledigen!", drohte er und ich wusste instinktiv, dass er nicht bluffte.

Das tat er nie.

Drake Russo, sprach nicht ohne nicht jedes verdammte Wort genauso zu meinen, wie er es sagte und ich wagte es, einen kurzen Blick über meine Schultern zu riskieren.

Ich sah ihn kaum, aber wusste natürlich, dass er da war. Ahnte er, wer sich hier oben versteckte? Und wenn er es erfuhr, was er mit mir machen? Scheiße.

Ein verräterisches Klicken ertönte. Er hatte seine Pistole gezogen und richtete sie auf mich.

"Eins...", begann er zu zählen und ich geriet in Panik.

Schnell bemühte ich mich die Ranke herunter und ignorierte dabei, wie die Äste mir in die Haut schnitten.

Ich schaffte es natürlich nicht bis 'drei' unten zu sein, aber als ich halbwegs in Bodennähe war und mir sicher sein konnte, mich bei einem Sturz nicht zu verletzen, ließ ich mich auf die weiche Wiese auf den Boden fallen. Direkt vor Drakes Füße.

Ich atmete schwer und keuchte, machte mir aber nicht die Mühe, mir die Blätter und Äste aus den Haaren zu ziehen und selbst die blutenden Schrammen an meinen Beinen und Armen waren nebensächlich, während ich stur auf den Boden blickte.

Er hatte die Waffe immer noch nicht wieder eingesteckt. Meine Anspannung wuchs.

Ich wusste nicht, was genau geschehen war. So ein Blutbad könnte wegen alles und gar nichts angerichtet worden sein, aber wenn ich raten müsste, würde ich behaupten, dass Janosch Russo, Drakes Vater, das Zeitliche gesegnet hatte und jemand versucht hatte, die Gelegenheit zu nutzen, um die Russos zu erledigen.

Zu dumm nur, dass die Russos mit Janoshs Tod nicht geschwächt, sondern erstarkt waren, denn im Gegensatz zu seinem Vater, kannte Drake kaum erbarmen. Doch wirklich vertraut mit der Mafia-Politik war ich nicht. Es gab nur einen Zusammenhang, den ich ganz genau verstand.

Wenn Janosch Russo tot war, würde ich ihm folgen und mein Mörder stand bereits direkt vor mir. Wie praktisch.

Würde es etwas bringen, um sein Leben zu betteln? Zu flehen, dass er es schnell und schmerzlos machen sollte? Irgendetwas zu erbitten? Ich wusste es nicht. Was ich aber wusste, war, dass ich nicht wütend auf ihm war. Ich hatte es Jahrelang versucht und meine Konzentration darauf hatte nur zu dieser nervigen Obsession ihm gegenüber geführt, aber ich hatte gehofft, dass ich ihn zumindest würden hassen können, wenn meine Stunde gekommen war.

Zumindest dann. Es war doch nur fair. Schließlich war er der Mann, der mich tötete.

Ich hob meinen Kopf und sah ihn durch ein paar durcheinander geratene blonde Strähnen hinweg entgegen. Ich war ihm erst wenige Male so nahe gekommen und nur ein einziges Mal habe ich auf diese Art und Weise vor ihm gekniet.

Die Position hatte etwas Verruchtes, aber das änderte sich schnell, als ich erkannte, dass Drake nicht nur die Pistole immer noch in der Hand hielt, er hatte sie auf meinen Kopf gerichtet. Der Sicherheitsbügel war zurückgezogen. Ich versuchte, das todbringende Metall vor mir zu ignorieren und ihm in die Augen zu sehen.

Ich mochte diese Augen. Und ich war immer noch nicht wütend. Ich konnte nicht. Das, was er hier tat, musste er tun und ich dämliche Kuh, hatte dafür auch noch Verständnis. Vielleicht war es gut, dass ich jetzt starb, dann würde ich nicht darüber nachdenken müssen, wie wenig ich für mein Leben getan hatte.

Eine lethargische Schwere legte sich über meinen Körper, die es unmöglich machte, auch nur zu zittern angesichts des bevorstehenden Todes. Plötzlich spürte ich mit stahlharter Sicherheit, warum ich wirklich nie einen ernsthaften Fluchtversuch unternommen hatte: Ich hatte mich damit abgefunden. Irgendwann im Laufe der Jahre hatte ich mir sogar gewünscht, es würde vorbei sein und von Drake ermordet zu werden, war eine seltsam intime Vorstellung gewesen.

Es hatte nie etwas gegeben, das uns verband, aber das hier würde es tun. Als eines seiner Opfer würde ich so bei ihm bleiben können. Irgendwie. Eine kranke, perverse Logik, geboren aus einer schier wahnwitzigen Verliebtheit.

Ich hielt den kalten Blick seiner Augen fest, verstand, dass er kein Erbarmen zeigen würde und dann schwenkte mein Blick gen Himmel.

Ich hob den Kopf und starrte dem zunehmenden Mond entgegen. So sehr ich Drake auch mochte, diesen Himmel...mit ihm vor meinen Augen wollte ich sterben.

"Tut mir leid", erklang seine Stimme und ich war so überrascht, dass er sich entschuldigte, dass ich den Blick vom Himmel nahm.

Dann erklang das tödliche Klicken der Pistole. Er hatte abgedrückt, nur wenige Zentimeter vor meinem Gesicht. Er würde nicht verfehlen, es würde kein Entkommen geben und ich verzieh' ihm.

Ich sah ihn an und wusste, dass er meinen Blick verstand, ich hatte ihm verziehen. Genauso wie ich war er Opfer der Umstände. Und dann starb ich ... nicht.

 nicht

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Keeping Ann - Ich lasse dich nicht gehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt