Babysitter - Teil 2

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Kapitel 18
Ann

"Du lebst tatsächlich noch", gähnte das Mädchen, als ich frisch geduscht von Drakes Zimmer in die Küche ging. Mich zu verstecken war sinnlos, diese kleine Göre hatte mich eh schon gesehen. Da konnte ich ebenso gut auch gleich den Kühlschrank plündern.
"Ja. Ich bin so dumm am Leben bleiben zu wollen", meinte ich und ging in die offene Wohnküche, um mir da ein Sandwich zu machen. An der Digitalanzeige des Backofens erhielt ich dann endlich eine Uhrzeit. Es war bereits wieder früher Abend, kurz vor sechs.
"Machst du mir auch eines?", fragte sie und lümmelte sich tiefer in die Couch, während sie irgendeine Reality-Show auf dem Fernseher betrachtete, der eingerahmt von Bücherregalen an der Wand hing. Ich stöhnte und machte zwei Sandwiches.
Natürlich konnte ich mich weigern, aber ich hatte keine Lust, mich wie ein Arsch zu verhalten, nur, weil sie es tat. Ich wollte besser sein als das.
Als ich fertig war, platzierte ich beide Brote auf jeweils einem Teller und hielt ihn ihr über den Kopf.
Sie sah zu mir hoch und mir fiel auf, wie hübsch sie war und wie ... bitter. Ihre Augen sahen aus, als hätten sie schon zu viel mit ansehen müssen, dennoch wirken sie nicht ablehnend, nur resigniert. Ich kannte den Ausdruck, denn er erinnerte mich an den, den ich stets im Spiegel sah. Ich bekam Mitleid. In dieser Welt wurde man entweder früh hart oder man brach, so einfach, so simpel und der Gedanke, dass auch sie diesen Prozess durchgemacht hatte, ärgerte mich.
Sie nahm den Teller mit einem Lächeln, das wohl eher ihrer Erziehung geschuldet war, als tatsächlicher Freundlichkeit, und rutschte auf der Couch etwas beiseite, als wolle sie mir Platz machen. Doch ich hatte kein Interesse, hier zu bleiben.
"Der Rand ist noch dran", entfuhr es ihr wie ein Kleinkind und ich schnaufte.
"Das heißt Dankeschön", korrigierte ich sie und machte mich auf den Weg zurück in mein Zimmer, bevor sie sich noch über andere Sachen beschweren konnte. Hatte Drake nicht gesagt, dass sie hier war, um auf mich aufzupassen?
Warum nur hatte ich dann das Gefühl, dass ich sie Babyzusitten musste?
Ich versuchte es zu ignorieren, vernahm aber hinter mir, wie das Mädchen aufstand und mir folgte.
"Wie hast du es gemacht?", fragte sie mit vollem Mund, denn obwohl sie sich über den Rand beschwerte, war ein Teil des Sandwiches bereits in den Mund gewandert.
"Was gemacht?", fragte ich und betrat meinen Raum. Sie folgte mir immer noch und als ich mich auf den Sessel fallen ließ, schmiss sie sich auf mein Bett. Uneingeladen. Ich hatte wohl ab jetzt einen Schatten.
Hatte ihr Drake gesagt, dass sie das tun sollte? Was dachte er sich dabei, ein halbes Kind damit zu beauftragen, Gefängniswärterin zu spielen?
"Ihn dazu gebracht, dich leben zu lassen. Mike war sich so sicher, dass er dich umlegen würde. Drake kennt so etwas wie Gnade nicht, glaub mir", meinte sie und ich sah ihr zu, wie sie das Sandwich verschlang.
Wann hatte sie zuletzt etwas gegessen? Gab es niemanden, der sich um dieses Mädchen kümmerte? Gehörte sie zu Mike? Sie hatte seinen Namen jetzt schon zum zweiten Mal erwähnt.
"Bist du Mikes Schwester?", fragte ich und sie schlang den letzten Rest ihres Brotes herunter und betrachtete mich mit vollen Hamsterbacken. Sie war schon echt niedlich.
"Cousine", schmatzte sie und deutete auf meinen Teller, den ich bis jetzt unangetastet gelassen hatte. Ich reichte ihn ihr.
"Die sind echt gut. Erinnert mich an die meiner Mum, sie hat meinen Dad betrogen und wurde deshalb umgebracht", sagte sie einfach, als hätte sie mir gerade die Wetternachrichten mitgeteilt. Es war, als würde mir jemand mit einer Faust in den Magen schlagen. Mitleid regte sich erneut in mir. Schon wieder, dabei wollte ich kein Mitleid für andere empfinden. Ich sollte mich um mich selbst sorgen.
"Deine Mutter wurde umgebracht?"
"Ja. Er hat ihr noch erlaubt mich zu umarmen, bevor er sie mit einem Gürtel erwürgte. War sehr unschön, aber ich sollte sehen, wo mein Platz als Frau war. Eines musste man ihm lasen: Es hat funktioniert. Es wurde mir bewusst. Sehr. Danach habe ich Pillen geschluckt. Mike hat mich gerettet, hat mit Dad geschimpft und mir versprochen, ich bekomme seinen Kopf, wenn es so weit ist", sagte sie so brühwarm, dass ich gar nicht wusste, wohin mit diesen Informationen.
Dann sah ich sie einfach nur an, während sie auch mein Sandwich verspeiste. Sie war süß, fast schon zu süß. Und dann ... ich wusste nicht wirklich, woran ich es erkannte, fiel der Groschen bei mir.
"Du versuchst mich zu manipulieren. Vertrauen aufzubauen, weil du etwas von mir wissen willst", meinte ich und ihre Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen.
"Doch nicht so dumm. Hat es funktioniert?", fragte sie und ich verschränkte die Arme unter meiner Brust.
"War irgendwas davon wahr?", stellte ich die Gegenfrage und sie kaute lange, dann schluckte sie den letzten Rest des zweiten Brotes herunter.
Sie hielt mir die beiden leeren Teller entgegen.
"Machst du mir noch eines?"
Ich schnaufte, nahm ihr aber die Teller ab. Ich hatte schließlich selbst noch Hunger. Also ging ich zurück in die Küche und sie kam mir erneut nach. Wie ein Küken, dass seiner Mama hinterherlief. Doch diesmal würde es keine Sandwiches geben.
Ich brauchte was Richtiges in den Magen und beschloss, uns etwas zu kochen. Während ich Pasta, Soßen und Töpfe aus dem Regal holte, wurden ihre Augen immer größer. Und das war nicht gespielt.
"Du kochst?", fragte sie ungläubig und versuchte nur ungenügend ihre Begeisterung zu unterdrücken. Ich zuckte mit den Schultern. In dem Haus der Russos gab es nur wenig zu tun, aber ich hatte gerne in der Küche geholfen. Bis Drakes Stiefmutter es bemerkte und mich wegschickte, allerdings war sie wirklich selten dort, wo die Angestellten gewesen waren, also passierte das selten.
"Klar. Ich brauche was Anständiges in den Magen und du kannst dich nicht von Sandwiches ernähren. Das ist nicht gesund", meinte ich und sie sah mir gebannt zu während ich Gemüse schnitt, einen großen Topf Wasser aufsetzte und dann zwei Pastatüten darin versenkte.
"Hat er dich deswegen behalten?", fragte sie weiter und ich lächelte in mich hinein.
"Nein. Weil ich ihn drum gebeten habe", sagte ich und sah wie ihre Gesichtszüge entglitten und ihre Augen noch größer wurden.
"Du hast ihn ... 'gebeten'? So wie in: 'Bitte, bitte Drake, nimm mich mit?'" Ich nickte und ihr fiel die Kinnlade herunter.
"Fuck. Fickt ihr?", fragte sie und ich war froh, dass ich mit dem Rücken zu ihr stand, während sie aufgeregt weiter quasselte. Ich hätte mich fast verschluckt. Sie war unfassbar direkt.
"Ha! Ich wusste es. Mike hat ständig erzählt, wie er dich ansieht, ich hab ihm gesagt, vielleicht steht er auf dich, aber ihr hattet schon was am Laufen, oder? Sonst hätte er dich tot sicher umgebracht!"
Tot sicher...diese Wortwahl...
Ich verkniff mir ein sarkastisches Lachen. Zu behaupten, ich und Drake hätten etwas miteinander, war so weit von der Realität entfernt, wie es nur ging, aber auch nicht ... unwahr. Ich wusste nur nicht, was wir da hatten.
"Du hast nicht auf die Frage geantwortet: War irgendwas davon wahr, was du über deinen Vater gesagt hast?", fragte ich und schob ihr ein Brettchen mit ein paar Zwiebeln zu, die sie schneiden sollte. Nur deshalb sah ich ihr nicken und ich beschloss nicht weiter nachzufragen. Mag sein, dass sie die Geschichte erzählt hatte, um mich zu manipulieren, aber sie war wahr und das war entsetzlich.

Keeping Ann - Ich lasse dich nicht gehenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt